Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
wusste keinen Trost. Ich hatte nicht einmal eine Erklärung dafür, warum uns dieses schreckliche Geschick widerfahren war. Und vor allem konnte ich ihm kaum sagen, was ich gesehen hatte: Wie der Meister dahingeschieden war, wie er, unser mächtiger Herr, die ewige Todesqual des Feuers erlitten hatte. Ich war in einem Schockzustand, der nahe an Hoffnungslosigkeit grenzte. Im Geiste ließ ich den Anblick wieder aufleben, der mir Marius brennend, als lebende Fackel, zeigte. Wie er sich im Feuer drehte und wand, wie sich seine schlanken Finger spinnenartig aus den roten Flammen heraus gen Himmel reckten. Marius war tot, Marius war verbrannt. Selbst für Marius waren es zu viele Gegner gewesen. Ich weiß, was er gesagt hätte, wenn er mir als tröstliches Gespenst erschienen wäre. »Sie waren einfach zu viele, Amadeo, die Überzahl war zu groß. Ich konnte sie nicht aufhalten, obwohl ich es versucht habe.«
Ich glitt in quälende Träume. Das Schiff pflügte weiter durch die Nacht, trug uns immer weiter fort von Venedig, fort von den Ruinen all der Dinge, an die ich geglaubt, die ich geliebt hatte.
Ich erwachte zum Klang von Gesängen und dem Geruch nach Erde, aber mitnichten russischer Erde. Wir waren nicht mehr auf dem Meer. Sie hatten uns an Land eingekerkert. Immer noch in das Netz eingewickelt, lauschte ich den hohlen, übersinnlichen Stimmen, die mit schurkischem Genuss den schrecklichen Choral Dies Irae intonierten -Tag des Zorns.
Eine dumpfe Trommel gab schwungvoll den Takt vor, als wäre es ein Lied zum Tanzen und nicht der fürchterliche Jammer über den Tag des Letzten Gerichts. Unaufhaltbar flössen die lateinischen Worte, die von dem Tag handelten, an dem die Welt zu Asche zerfällt, wenn die Trompeten des HERRN erschallen und sich alle Gräber öffnen. Selbst der Tod und die Natur würden schaudern, alle Seelen würden zusammengetrieben, niemand könnte sich mehr vor dem HERRN verbergen, und aus einem großen Buch würde Er die Sünden jedes Einzelnen verlesen, und seine Rache würde über uns kommen. Und wer würde dann für uns sprechen, wenn nicht der Richter selbst, unser erhabener HERR? Die einzige Hoffnung liegt im Mitleid, das der HERR für uns hegen mag, unser HERR, unser Gott, der für uns am Kreuz gelitten hat und dessen Opfer nicht vergebens sein sollte. Ja, wunderschöne alte Worte, aber sie strömten aus einem satanischen Mund, aus dem Mund eines Wesens, das die Bedeutung nicht erkannte, das seine Trommel so eifrig schlug, als gälte es, ein Fest zu feiern.
Eine Nacht war vergangen. Wir waren eingekerkert gewesen, und man entließ uns nun aus unserem Gefängnis, während die grausige, dünne Stimme zur Begleitung der munteren Trommelschläge immerfort weitersang.
Ich hörte die Flüsterstimmen der älteren Jungen, die sich mühten, die Jüngeren zu trösten, und dazwischen die feste Stimme Riccardos, die ihnen versicherte, dass sie bestimmt bald erfahren würden, worum es eigentlich ging, und vielleicht frei gelassen würden.
Nur ich konnte das spitzbubenhafte Lachen hören, das uns wie Geraschel rings umgab. Nur ich wusste, wie viele übersinnliche Monster uns heimlich umkreisten, als wir nun ins Licht eines riesenhaften Feuers geschoben wurden.
Man riss mir das Netz vom Körper. Ich rollte über den Boden, krallte meine Finger ins Gras. Als ich den Blick hob, sah ich, dass wir uns auf einer großen Lichtung befanden, und die gleichgültigen Sterne blickten von hoch oben auf uns herab. Die Luft war sommerlich, und hoch aufragende, grüne Bäume umgaben uns. Aber das Fauchen des lohenden Feuers verzerrte alles. Die Jungen waren aneinander gekettet, ihre Kleider waren zerrissen und ihre Gesichter zerkratzt und mit Blut verschmiert. Sie schrien entsetzt auf, als sie meiner ansichtig wurden, doch ich wurde sofort aus ihrer Nähe fortgezerrt und von einer Horde kleiner, Kapuzen tragender Dämonen an beiden Händen festgehalten. »Ich kann euch nicht helfen!«, rief ich ihnen zu, selbstsüchtig, gemein. Mein Stolz hatte mich dazu gebracht. Aber es führte nur zu Panik unter ihnen. Ich sah, dass Riccardo, der genauso zerschlagen war wie die Übrigen, sich rechts und links zu ihnen beugte, um sie zu beruhigen. Die Hände hatte man ihm zusammengebunden, und sein Wams hing nur noch in Fetzen auf seinem Rücken. Er richtete seinen Blick auf mich, und dann sahen wir uns gemeinsam nach den dunkel gekleideten Gestalten um, die uns in ihrem Kreis einschlossen. Konnte er sehen, wie weiß ihre Hände
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