Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
Krieges. Manchmal wirkt er gerissen, sogar hassenswert. Er weiß eine Menge. Er unterschätzt die Macht der Uralten nicht, die, nachdem sie die soziale Unsichtbarkeit vergangener Jahrhunderte abgelegt haben, ganz gemütlich unter uns einhergehen. Wenn er mich anschaut, sind seine schwarzen Augen starr und passiv. Der Schatten seines rasierten Bartes, auf ewig in seine Haut gebrannt, gefällt mir, wie immer schon. Alles in allem ist er, was man konventionell als viril bezeichnet, er trägt das gestärkte weiße Hemd am Hals offen, damit man das dichte, krause Brusthaar sehen kann, und ein ebenso verlockender schwarzer Pelz bedeckt seine Arme bis zu den Handgelenken. Er bevorzugt schick geschnittene, aber rustikale schwarze Jacketts mit Leder oder Pelzkragen, er mag elegante schwarze Wagen, die dreihundert Stundenkilometer machen, und sein goldenes Feuerzeug, das nach Flüssiggas stinkt, zündet er wieder und wieder an, nur um in die Flamme zu starren. Wo er wirklich lebt und wann er auftaucht, weiß nie jemand.
Santino. Mehr als das weiß ich nicht über ihn. Wir halten höflichen Abstand voneinander. Ich habe den Verdacht, dass er selbst schrecklich gelitten hat. Ich versuche nicht mit Gewalt den glänzenden modischen Lack seines Verhaltens abzukratzen, aus Furcht, ich könnte eine nackte, blutige Tragödie darunter finden. Um Santino kennen zu lernen, ist immer noch Zeit.
Und nun werde ich, für die besonders jungfräulichen Leser, meinen Herrn und Meister Marius beschreiben, so wie er heute ist. Zwischen uns liegen ein so langer Zeitraum und so viele Erfahrungen, dass es ist, als trennte uns ein Gletscher, und über das glänzende Weiß dieser unpassierbaren Halde sehen wir einander an, nicht fähig, anders als gedämpft und höflich zueinander zu sprechen. Manierlich ist das junge Geschöpf, das ich nach außen hin bin, zu hübsch nach gängiger Ansicht, und er stets der weltliche Übergebildete, der Gelehrte des Augenblicks, der Philosoph des Jahrhunderts, der Ethiker des Jahrtausends, der Historiker auf ewig.
Er schreitet hoch aufgerichtet, wie e s immer seine Gewohnheit war, königlich selbst in der unauffällig modischen Kleidung des 20. Jahrhunderts, er lässt seine Jacketts aus altem Samt schneidern, damit sie ein klein wenig an die Herrlichkeit seines früheren nächtlichen Aufzugs erinnern. Heute schneidet er gelegentlich sein blondes Haar, das er im alten Venedig in stolzer Länge trug. Er hat eine schnelle Auffassungsgabe und eine gewandte Zunge und ist immer auf der Suche nach vernünftigen Lösungen, besitzt unendliche Langmut und unstillbare Neugier und weigert sich, aufzugeben, gleichgültig, was das Schicksal mit ihm vorhat oder mit uns oder mit der Welt. Keine Erfahrung kann ihm eine Niederlage bereiten, durch Feuer und durch die Zeit gehärtet, ist er zu stark für die Schrecknisse der Technik oder die Faszination der Wissenschaft. Weder Mikroskope noch Computer können seinen Glauben an das Unendliche erschüttern, obwohl seine einst so gewichtigen Schutzbefohlenen jene, die bewahrt werden müssen, die für ihn eine erlösende Bedeutung hatten - schon längst von ihrem archaischen Thron gestürzt sind.
Ich fürchte ihn. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht fürchte ich ihn, weil ich mich wieder in ihn verlieben könnte, und ihn zu lieben hieße, ihn vielleicht auch wieder zu brauchen, und das hieße, vielleicht, wieder von ihm zu lernen, und so wäre ich wieder sein treuer Schüler in allen Dingen, nur um dann feststellen zu müssen, dass seine Geduld mit mir kein Ersatz ist für die Leidenschaft, die einst in seinen Augen flammte. Ich brauche diese Leidenschaft! Ich brauche sie. Aber genug von Marius. Zweitausend Jahre hat er überlebt, hat sich ohne Reue in die großen Strömungen des menschlichen Lebens gestürzt, ein großer Praktiker in der Kunst, menschlich zu sein, auf ewig ein Muster für die Anmut und stille Würde der Augustinischen Ära des scheinbar unbesiegbaren Roms, in dem er geboren wurde.
Es gibt noch andere, die nicht hier bei uns sind, obwohl sie das »Night Island« besucht haben, und ich werde sie wiedersehen. Da sind die uralten Zwillinge, Mekare und Maharet, die Wächter des ursprünglichen Blutquells, von dem unser Leben ausgeht, die Wurzeln des Weinstocks sozusagen, auf dem wir so standhaft und so schön blühen. Die beiden sind nun unsere Königinnen der Verdammten. Dann gibt es noch Jesse Reeves, von Maharet, dem ältesten und wirklich Schwindel erregenden Monster
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