Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
gemacht, ist sie ein Zögling des 20. Jahrhunderts, ich kenne sie nicht, aber ich bewundere sie sehr. Sie hat eine unvergleichliche Ausbildung in Geschichte, dem Übersinnlichen, in Philosophie und Sprachen in die Welt der Untoten mitgebracht. Sie ist die Unbekannte. Wird das Feuer sie verzehren, wie so viele andere, die, des Lebens müde, die Unsterblichkeit nicht akzeptieren können? Oder wird ihr Verstand, geprägt vom 20. Jahrhundert ihr eine unzerstörbare Rüstung für die zukünftigen Veränderungen schenken, mit denen wir rechnen müssen? Ah, da sind auch noch andere. Sie sind Wanderer. Von Zeit zu Zeit kann ich ihre Stimmen durch die Nacht auffangen. Irgendwo, weit weg, gibt es welche, die nichts von unseren Traditionen wissen. Sie stehen unseren literarischen Ergüssen feindselig gegenüber, aber, amüsiert über unsere Umtriebe, haben sie uns »Den Orden der Redseligen« getauft, es sind fremdartige nicht registrierte Wesen mit ganz verschiedenen Fähigkeiten und Einstellungen, die manchmal, wenn sie auf einem Buchständer eine Ausgabe von Fürst der Finsternis finden, hergehen und das Taschenbuch in ihren starken Händen voller Verachtung zu Pulver zermahlen.
Vielleicht werden sie ja mit ihrer Weisheit und ihren Verstandeskräften in dunkler Zukunft zu unserer Chronik beitragen. Wer weiß? Jetzt gibt es nur noch einen Mitspieler, der unbedingt beschrieben werden muss, ehe ich mit meiner Erzählung fortfahren kann. Der bist du, David Talbot, den ich kaum kenne, du, der du mit rasender Geschwindigkeit all die Worte niederschreibst, die aus mir herauspurzeln, während ich dich beobachte, irgendwie fasziniert von der bloßen Tatsache, dass diese Gefühle, die so lange in mir brodelten, nun auf einer, wie es scheint, für die Ewigkeit gedachten Seite festgehalten werden.
Was bist du, David Talbot? Über siebzig Jahre sterblicher Bildung hängen an dir, dem Gelehrten, einer tiefgründigen, liebevollen Seele. Wie kann man das erklären? Was du als Mensch warst, ein betagter Mann, dessen Weisheit durch die üblichen traurigen Erlebnisse nur wuchs, dieses Wesen wurde mit all deinen Erinnerungen, deinem gelehrten Wissen in den herrlichen Körper eines jungen Mannes übertragen. Und dieser Körper, ein kostbares Gefäß für den Heiligen Gral deiner Persönlichkeit, die sich des Wertes beider Elemente klar bewusst war, wurde von deinem engsten Freund überfallen, dem liebevollen Ungeheuer, dem Vampir, der dich als seinen Gefährten für die Wanderung durch die Ewigkeit wollte, ob du es ihm erlaubtest oder nicht. Das war unser aller geliebter Lestat.
Ich kann mir eine solche Vergewaltigung nicht vorstellen. Ich stehe der Menschheit nicht nahe genug, ich war niemals ein »ganzer Mann«. In deinem Gesicht sehe ich die Energie und die Schönheit des dunklen Anglo-Inders mit dem goldenen Teint, dessen Körper du dich erfreust, und in deinen Augen finde ich die abgeklärte und gefährlich gleichmütige Seele des alten Mannes. Dein schwarzes Haar ist weich und reicht gerade bis über die Ohren. Was deine Kleidung betrifft, bist du zwar eitel, hältst dich aber an den konservativen britischen Stil. Du schaust mich an, als ob du mich mit deiner Neugier unvorsichtig machen wolltest, obwohl du es nicht so meinst.
Tu mir etwas an, und ich bringe dich um. Mir ist gleichgültig, wie stark du bist, oder wie machtvoll das Blut ist, das Lestat dir gab. Ich weiß mehr als du. Nur weil ich dir zeige, wie ich leide, heißt das nicht unbedingt, dass ich dich auch liebe. Ich mache das hier für mich und für andere, für die reine Vorstellung, dass andere es vielleicht erfahren wollen, und natürlich für meine sterblichen Kinder, die, die ich erst kürzlich um mich geschart habe, die beiden kostbaren Wesen, die für mich der surrende Motor zum Weiterleben geworden sind. Symphonie für Sybelle. So könnte diese Beichte auch heißen. Und da ich für Sybelle bisher mein Bestes gegeben habe, bekommst du es zwangsläufig auch.
Ist das jetzt genug von der Vergangenheit? Ist der Prolog nicht lang genug, der dem Moment vorausgeht, als ich das Antlitz Christi auf dem Schweißtuch sah? Hier beginnt das letzte Kapitel meines Lebens. Mehr gibt es nicht. Du hast das Übrige, und was jetzt noch fehlt, ist nur der kurze, peinvolle Bericht über das, was mich hierher gelangen ließ.
Sei mein Freund, David. Ich wollte diese schrecklichen Sachen gar nicht zu dir sagen. Mein Herz tut weh. Du musst mir jetzt sagen, dass ich unbedingt weitermachen
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