Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
wie sie manch Sterblichen und Unsterblichen Zeit ihres Lebens nicht widerfahrt. Ich kenne Sybelle durch und durch. Ich kenne sie. Ich hatte dieses Gefühl seit ich sie zum erstenmal spielen hörte, und ich wäre jetzt nicht hier bei dir, wenn Marius sie nicht in seiner Obhut hätte. Solange sie lebt, möchte ich nie wieder von i hr getrennt sein, und was auch immer sie von mir verlangt, ich werde es ihr geben. Ich werde fürchterlich leiden, wenn Sybelle stirbt, aber das muss ich ertragen. Ich habe jetzt keine Wahl mehr. Ich bin nicht mehr der, der ich war, als meine Augen auf das Schweißtuch der Veronika fielen und ich mich der Sonne aussetzte.
Ich bin ein anderer, und dieser andere ist tief gefallen und nun verliebt in Sybelle und Benji, und das kann ich nicht rückgängig machen. Natürlich bin ich mir deutlich bewusst, dass ich durch diese Liebe aufblühe. Ich bin jetzt glücklicher als je zuvor, und dass die beiden meine Gefährten sind, hat mir viel Kraft gegeben. Das Ganze ist so vollkommen, dass ich eigentlich nicht an Zufall glaube.
Sybelle ist nicht geisteskrank. Nicht einmal e in bisschen. Ich bilde mir ein, dass ich sie vollkommen verstehe. Sybelle ist von einer einzigen Sache besessen, und das ist ihr Klavierspiel. Sie hat nie etwas anderes gewollt, seit sie das erste Mal die Tasten berührt hat. Doch ihre »Karriere«, die ihre Eltern und ihr Bruder so großzügig und überehrgeizig für sie geplant hatten, hat ihr nie viel bedeutet. Wäre sie arm gewesen, hätte sie um Anerkennung ringen müssen, hätte sie ihre Liebesaffäre mit dem Klavier nicht ausleben können, denn nur eine Karriere hätte ihr den Ausbruch aus dem trüben Alltag ermöglicht. Aber sie war nie arm. Und ganz tief drinnen in ihrer Seele, da ist es ihr gleichgültig, ob die Leute sie spielen hören oder nicht. Es genügt ihr, wenn sie für sich selbst spielt, solange sie weiß, dass sie niemanden stört. Und in dem alten Hotel, in dem die meisten Räume nur für einen Tag gemietet werden und nur eine Hand voll Mieter reich genug ist, um ständig dort zu wohnen, wie Sybelles Familie, da kann sie spielen, ohne dass es jemanden stört.
Und als sie durch den tragischen Tod ihrer Eltern die Einzigen verloren hatte, die mit ihrer Entwicklung, ihren Fortschritten vertraut waren, konnte sie sich einfach nicht mehr mit Fox’ Plänen für ihre Karriere anfreunden.
Nun, all das verstand ich fast von Anfang an. Ich verstand auch, warum sie unaufhörlich die Sonate Nr. 25 wiederholte, und ich denke, wenn du sie spielen hörtest, ginge es dir ebenso. Ich möchte, dass du sie hörst.
Verstehe, in der Öffentlichkeit zu spielen, würde Sybelle nicht durcheinander bringen. Es würde sie auch überhaupt nicht stören, für Plattenaufnahmen zu spielen. Und wenn ihr jemand sagt, dass er ihr Spiel genossen hat, dann ist sie entzückt. Aber das hat einen ganz einfachen Grund. Sie denkt nämlich, ‘Ah, also lieben Sie das Stück auch. Ist es nicht herrlich?’ Genau das haben mir ihre Augen und ihr Lächeln gesagt, als ich sie das erste Mal traf. Und ich denke, ehe ich fortfahre - es gibt noch einiges über meine Kinder zu erzählen - , sollte ich die Frage stellen: Wie habe ich sie überhaupt getroffen? Wie kam es, dass ich an jenem schicksalhaften Morgen in ihrem Apartment war, wenn ich doch eigentlich, als das Blut in meinen Adern explodierte, wie eine Rakete himmelwärts schoss?
Ich weiß es nicht. Ich habe ein paar ermüdende, übernatürliche Erklärungen parat, die sich anhören, als kämen sie von der Gesellschaft für übersinnliche Phänomene oder aus den Drehbüchern von Akte X. Oder wie ein Geheimordner aus den Archiven der Talamasca dieser Detektive des Übersinnlichen.
Ich sehe es, offen gesagt, so: Meine Fähigkeiten, jemanden in Trance zu versetzen oder mein geistiges Auge einzusetzen oder mein Bild über eine größere Entfernung auszusenden, ist sehr stark entwickelt, und ich kann sogar Materie beeinflussen, in meiner unmittelbaren Nähe und weiter weg. Ich denke, ich muss diese Fähigkeiten an jenem Morgen eingesetzt haben, als ich den Wolken entgegenschoss. Vielleicht habe ich sie unabsichtlich benutzt, als ich vor Schmerz verrückt war und überhaupt nicht bemerkt habe, was ich tat. Es könnte eine letzte, verzweifelte hysterische Weigerung gewesen sein, den Tod - die Tatsache, womöglich zu sterben - zu akzeptieren, oder, dem Tode so nah, diese schreckliche Zwangslage zu akzeptieren, in der ich mich sah. Das heißt also,
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