Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
nachdem ich auf dem Dach gelandet war, verbrannt und unter unglaublichen Qualen, könnte ich einen geistigen Fluchtweg gesucht haben, indem ich mein Bild und meine Kraft in Sybelles Apartment projizierte, zumindest lange genug, um ihren Bruder zu töten. Ich weiß, dass es Geistern möglich ist, genug Druck zu erzeugen, dass sich Materie verändert. Also war es vielleicht genau das. Ich habe mich als Geist zu Sybelle hinüber projiziert und meine Hände auf etwas Stoffliches gelegt - und das war Fox - und es getötet. Aber eigentlich glaube ich das alles nicht. Und ich sage dir auch, warum nicht.
Zuerst einmal sind Sybelle und Benji zwar keine Experten in Sachen Tod und forensischer Analytik, aber sie beharrten beide da rauf, dass Fox’ Körper blutleer war, als sie ihn fortschafften. An seinem Hals waren punktförmige Wunden sichtbar. Das heißt, sie sind sich bis zum heutigen Tag sicher, dass ich dort war, ganz real und stofflich, und dass ich Fox tatsächlich leer gesaugt habe.
Das kann nun ein projiziertes Bild nicht tun, nicht, so weit ich weiß. Nein, es kann nicht das Blut eines ganzen Kreislaufsystems in sich aufnehmen und sich wieder auflösen und dann in den Geist desjenigen zurückkehren, der es ausgesandt hat. Das ist unmöglich.
Natürlich konnten die beiden sich täuschen. Was wissen sie schon über Blut und Leichen. Aber eins steht fest, Fox lag ein paar Tage tot in ihrem Apartment, während sie darauf warteten, dass der Engel oder Dybbuk zurückkehrte, der ihnen bestimmt helfen würde. In dieser Zeit sinkt das Blut im Körper nach unten und bildet dort Blutergüsse, die selbst diese Kinder hätten sehen müssen. Und sie haben nichts bemerkt.
Ach, es bereitet mir Kopfschmerzen! Tatsache ist, ich weiß nicht, wie ich in das Zimmer gekommen bin oder warum. Aber ich weiß eines, und das habe ich schon einmal beteuert: dass meine ganze Erfahrung alles, was ich in der Kathedrale in Kiew gesehen und gefühlt habe genauso real war wie die in Sybelles Zimmer.
Es gibt noch einen kleinen Punkt, klein, aber entscheidend: Nachdem ich Fox getötet hatte, sah Benji meinen verbrannten Körper vom Himmel fallen. Er sah mich vom Fenster aus genauso, wie ich ihn sah. Eine andere ziemlich entsetzliche Erklärung ist möglich: Ich wollte an dem Morgen sterben, es sollte geschehen. In diesen Aufstieg legte ich meine ganze Willenskraft, meine unendliche Liebe zu Gott, an der ich auch jetzt, während ich dir diese Worte diktiere, noch keinen Zweifel hege. Aber vielleicht ließ mich im entscheidenden Moment mein Mut im Stich. Mein Körper ließ mich im Stich. Und als ich nach einer Zuflucht vor der Sonne suchte, um meinem Martyrium zu entkommen, stieß ich auf Sybelle und Benji in ihrer scheußlichen Lage, und als ich spürte, wie sehr sie mich brauchten, gelang es mir, auf dieses schützende Dach zu fallen. Dann wäre mein Besuch bei Sybelle nur eine vorübergehende Illusion gewesen, eine Selbstprojektion, die Erfüllung eines Wunsches, weil ein Mädchen sonst von ihrem Bruder totgeschlagen worden wäre. Und was Fox betrifft, den habe ich getötet, aber er starb aus Furcht, vielleicht Herzversagen, weil sich diese eingebildeten Hände zu fest in seine Kehle drückten, vielleicht durch Telekinese oder meine Suggestionskraft.
Aber ich sagte es schon, ich glaube das alles nicht.
Ich stand in der Kathedrale. Ich zerbrach die Schale des Eis mit meinen Fingernägeln. Ich sah den Vogel aufsteigen.
Ich weiß, dass meine Mutter neben mir stand, ich weiß, dass mein Vater den Kelch umstieß. Das weiß ich einfach, weil ich mir nicht denken kann, aus welcher Quelle ich diese Vorstellung hätte ziehen sollen. Und ich weiß es, weil diese Farben, diese Musik, die ich hörte, nicht im Schatz meiner Erfahrungen vorkommen. Und das hätte ich von keinem meiner Träume je behaupten können.
Und jetzt will ich nichts mehr dazu sagen. Es schmerzt mich zu sehr, und diese bemühten Analysen sind einfach zu schrecklich. Ich habe es nicht bewusst gewollt, und ich hatte auch keine bewusste Macht darüber. Es ist einfach geschehen.
Wenn ich könnte, würde ich es ganz vergessen. Ich bin so unglaublich glücklich mit Sybelle und Benji, dass ich es zumindest, solange sie leben, am liebsten vergessen würde. Ich möchte nur mit ihnen zusammen sein.
Und dir ist klar, dass ich mein Kommen hinausgezögert habe. Nachdem ich mich wieder in die Reihen der gefährlichen Untoten eingereiht hatte, war es mir ein Leichtes, aus den schweifenden
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