Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
dem Basiliskenblick. Aber nun betrachtete ich sie, die leidende heilige Rita, die beiden lieblichen heiligen Theresen und auch den heiligen Franz in seiner Mönchskutte.
Mehr noch als diese verstreut stehenden Statuen beeindruckten mich die Bilder, die die Stationen des Kreuzes darstellten, genau in die richtige Reihenfolge gebracht, vielleicht schon lange, ehe wir hierher kamen. Sie waren in Öl auf Kupfer gemalt, mit einem RenaissanceAnklang, ein bisschen erinnerten sie an den russischen Stil, und ich war hingerissen davon, denn ich mag diesen Stil, weil er für mich etwas Vertrautes ist.
Auf dieser Stelle war die Furcht in mir hochgekrochen, die schon in den glücklichen New Yorker Wochen in mir gelauert hatte. Nein, weniger Furcht als Grauen.
»Mein HERR!«, flüsterte ich und drehte mich um zu dem Antlitz Christi, das von dem großen Kruzifix über Lestats Kopf herabschaute. Dies war ein entscheidender Augenblick. Ich glaube, das Bildnis auf dem Schweißtuch schob sich über das, was ich auf dem geschnitzten Holz erblickte. Bestimmt war es so. Ich sah Seine schönen dunklen Augen, fest auf dem Tuch fixiert - Teil des Tuches, doch nicht von dem Gewebe absorbiert. Ich sah die Linien der dunklen Augenbrauen, den ruhigen Blick, das Blut, das von den Dornen tropfte, und Seine Lippen teilten sich, als ob Er sprechen wollte.
Ich zuckte zusammen, als ich merkte, dass Gabrielle von den Al tarstufen aus ihren gletschergrauen Blick auf mich gerichtet hatte. Sofort verschloss ich meinen Geist vor ihr. Ich wollte nicht, dass sie mich oder gar meine Gedanken berührte. Und in mir kribbelte ein Gefühl der Feindseligkeit gegen alle, die sich hier versammelt hatten. Dann kam Louis. Er war so froh, dass ich nicht in Flammen aufgegangen war! Er wollte mir etwas sagen. Er wusste, dass ich be troffen war und unruhig, weil die anderen hier waren. Er selbst sah aus wie immer, asketisch, der abgetragene schwarze Anzug voller Staub, das lange getragene Hemd dünn wie aus Elfengarn. »Wir lassen sie ein, weil sie sonst das Gebäude umkreisen wie Schakale. Sie gehen einfach nicht weg. Aber so kommen sie, gucken und verschwinden bald wieder. Du weißt, was sie wollen.«
Ich nickte. Ich hatte nicht den Mut, ihm zu sagen, dass ich das Gleiche wollte. Ich hatte nie wirklich aufgehört, daran zu denken, nicht einen Moment, unter dem rauschenden, neuen Taktschlag meines Lebens hatte es geschwärt.
Ich wollte Lestats Blut. Ich wollte von ihm trinken. Ganz ruhig übermittelte ich Louis dieses Ansinnen.
»Er wird dich umbringen«, flüsterte er. Schrecken durchflutete ihn. Er schaute fragend auf die sanfte, schweigende Sybelle, die sich an meine Hand klammerte, und auf Benjamin, der ihn mit glänzenden Augen hingerissen musterte. »Armand, das kannst du nicht wagen! Einer von den Jungen ist ihm zu nahe gekommen. Lestat hat ihn zerschmettert. Mit einer einzigen schnellen, automatischen Bewegung. Sein Arm ist wie lebender Stein, er hat die Kreatur in Stücke zerquetscht. Komm ihm nicht zu nahe, versuch’s nicht!«
»Und die Alten, die Starken, haben sie es nie versucht?« Pandora meldete sich zu Wort. Sie hatte uns, in die Schatten gedrückt, die ganze Zeit beobachtet. Ich hatte ganz vergessen, wie schön sie war, mit ihren langen, braunen Haaren und den kühnen, flammenden Augen. Sie hatte sich eine braune, ölige Lotion aufs Gesicht gestrichen, um etwas menschlicher auszusehen. Mit weiblicher Warmherzigkeit nahm sie sich die Freiheit heraus, mir eine Hand auf den Arm zu legen. Sie war zu froh, mich lebendig zu sehen.
»Armand, du kennst Lestat, die Kraft brodelt in ihm wie in einem Hochofen, niemand weiß, was er tun könnte«, sagte sie bittend. »Aber, Pandora, hast du denn nie selbst daran gedacht? Ist es dir nie in den Sinn gekommen, sein Blut zu trinken und dabei die Vision von Christus vor dir zu sehen? Was, wenn du in seinem Blut den unfehlbaren Beweis findest, dass er das Blut Gottes trank?«
»Aber Armand«, sagte sie. »Christus war nie mein Gott.« Es war so einfach, so schockierend, so endgültig.
Sie seufzte meinetwegen, dann lächelte sie. »Ich würde deinen Christus nicht erkennen, selbst wenn er in ihm wäre.«
»Du verstehst das nicht, etwas ist geschehen; als er mit Memnoch gegangen war, kam er mit dem Schweißtuch zurück. Ich habe es gesehen. Ich sah … die Macht, die darin wohnte.«
»Du sahst eine Illusion«, sagte Louis sanft.
»Nein, ich sah die Macht«, antwortete ich. Dann hegte ich eine Sekunde lang
Weitere Kostenlose Bücher