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Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Titel: Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Menschenhand!«, flüsterte ich. Ich ließ den Pinsel fallen und schlug die Hände vors Gesicht.
    Ich suchte nach den griechischen Worten dafür. Als ich sie aussprach, nickten mehrere der Knaben, doch sie verstanden nicht, was ich damit meinte. Wie konnte ich ihnen diese Katastrophe erklären? Ich betrachtete meine Finger. Was war geworden aus - an dieser Stelle verlor sich die Erinnerung. Ich stand plötzlich wieder da als dieser neue Amadeo.
    »Ich kann es nicht.« Ich starrte auf die Leinwand, auf dieses Farbgekleckse. »Vielleicht gelänge es mir, wenn ich auf Holz statt auf Leinwand malte.«
    Was war es gewesen, was ich gekonnt hatte? Sie verstanden mich nicht.
    Mein Meister, der Blonde, der blonde Mann mit den eisblauen Augen, er war nicht der Mensch gewordene HERR.
    Aber er war mein Herr. Und ich konnte nicht vollbringen, was er von mir erwartete.
    Um mich zu trösten und von meinem Kummer abzulenken, nahmen meine Gefährten ihre Pinsel auf und versetzten mich in Erstaunen, indem sie mir zeigten, wie ein Gemälde einem Strom gleich unter den raschen Strichen ihrer Pinsel hervorfloss.
    Das Gesicht eines Knaben, Wangen, Lippen, Augen, ja, und rötlich goldenes Haar im Überfluss. Guter Gott, das war ich … das war keine Leinwand, das war ein Spiegel! Es war eindeutig Amadeo. Riccardo ging jetzt ans Werk, um dem Gesicht den letzten Schliff zu verleihen, den Ausdruck der Augen zu vertiefen und mit dem Geschick eines Zauberers etwas an dem Mund zu vollführen, das ihn aussehen ließ, als wollte er gerade sprechen. Was für ein überwältigendes Hexenwerk war das, das aus dem Nichts einen Knaben entstehen ließ, ganz natürlich wirkend, in einer zufälligen Pose, mit leicht gerunzelten Brauen und Strähnen unordentlicher Haare, die über den Ohren herabhingen?
    Sie schien mir gleichzeitig blasphemisch und schön, diese flüchtige, freie, sinnliche Gestalt.
    Riccardo buchstabierte die griechischen Lettern, während er sie schrieb. Dann warf er den Pinsel hin und rief:
    »Unser Meister hatte ein ganz anderes Bild im Sinn.« Er sammelte die Gemälde ein.
    Sie zerrten mich durch das ganze Gebäude - »palazzo« sagten sie dazu und lehrten mich dieses Wort mit Wonne.
    Das Haus quoll von Gemälden über, sie hingen an Wänden, De cken und Vertäfelungen, und überall lehnten Leinwände gegeneinander, stapelten sich Bilder, auf denen Ruinen und zerborstene Säulen, wild wucherndes Grün und ferne Berge abgebildet waren, und dazu endlose Ströme geschäftiger Menschen mit rosigen Gesichtern, deren reiche Haarfülle und herrliche Kleidung immer zerzaust war und im Wind flatterte.
    Sie ähnelten den großen, mit Früchten und Fleisch überhäuften Platten, die man mir später vorsetzte: eine wüste Unordnung, ein Überfluss um des Überflusses willen, ein Überschwang von Farben und Formen. Es war wie der Wein, zu süß und zu leicht.
    Und so war auch die Stadt, die ich durch die geöffneten Fenster dort unten liegen sah. Ich sah die schlanken, schwarzen Boote -Gondeln, auch damals schon -, wie sie im gleißenden Sonnenlicht durch das grünliche Wasser steuerten, und sah die Männer in ihren prächtigen roten oder goldenen Umhängen die Kais entlangeilen.
    Später drängten wir uns in unsere eigenen Gondeln, immer ein ganzes Trüppchen, und im Nu bewegten wir uns im Rhythmus der Ruder in anmutiger Stille zwischen den Fassaden der Häuser fort, von denen jedes großartig wie eine Kathedrale war, mit schlanken Spitzbögen und Rosettenfenstern und Verblendungen aus schimmerndem weißem Stein.
    Selbst die älteren, armseligen Unterkünfte, die zwar nicht übermäßig mit Verzierungen versehen, aber doch von enormer Größe waren, leuchteten in kräftigen Farben, in tiefem Rosa wie von zerdrückten Blütenblättern oder einem Grün, das aussah, als hätte man es mit dem undurchsichtigen Wasser des Kanals vermischt.
    Dann ging es hinaus auf den Markusplatz, mitten zwischen die lang hingestreckten, fantastisch ebenmäßigen Arkaden.
    Während ich die hunderte von durcheinander eilenden Menschen vor den im Hintergrund aufragenden goldenen Kuppeln der Kirche anstarrte, dachte ich, dies müsste der Versammlungsplatz der Himmelbewohner sein.
    Goldene Kuppeln. Goldene Kuppeln.
    Irgendeine alte Geschichte, die man mir erzählt hatte, handelte von goldenen Kuppeln, und gesehen hatte ich sie auch, auf einem vom Alter nachgedunkelten Bild, war es nicht so? Heilige Kuppeln, vergangene Kuppeln, in Flammen aufgegangen, eine Kirche

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