Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
ihren Blättern leise wiegen, alle in diesen fantastischen Farben und Schattierungen, ein stiller, ungeheurer und unglaublicher Anblick…« Ich hatte, im Rückblick auf meine Visison, weggeschaut. Nun sah ich ihn an und bat: »Sagt mir, was diese Dinge bedeuten. Wo ist diese Stätte, und warum durfte ich sie sehen?«
Er seufzte traurig und wandte jetzt selbst den Blick ab. Dann richtete er ihn wieder auf mich, sein Gesicht unverändert distanziert und unnachgiebig, doch, wie ich nun bemerkte, befeuert mit menschlicher Wärme aus menschlichen Adern, aus denen er zweifellos auch an diesem Abend sein Nachtmahl gesogen hatte. »Wollt Ihr nicht einmal lächeln, nun, da Ihr mir Lebewohl sagt?«, fragte ich. »Wenn Ihr nichts anderes fühlt als diese bittere Kälte, so dass Ihr mich an diesem rasenden Fieber sterben lassen würdet? Ich bin krank bis auf den Tod, Ihr wisst es. Ihr wisst, welch schreckliche Übelkeit in mir tobt. Ihr wisst, wie sehr mein Kopf hämmert. Ihr wisst, dass all meine Gelenke schmerzen, wie sehr die Schnitte in meiner Haut von dem Gift, das unbestreitbar darin wütet, brennen. Warum seid Ihr mir so fern, obgleich Ihr hier seid? Seid Ihr nur heimgekommen, um ohne eine Gefühlsregung neben mir zu sitzen?«
»Ich fühle die Liebe, die ich immer für dich hegte, wenn ich dich nur ansah«, antwortete er. »Mein Kind, mein Sohn, mein einziger, geduldiger Schatz. Ich fühle sie wie stets. Sie ist in mir versiegelt, und ich sollte sie vielleicht dort bewahren und dich sterben lassen, denn, ja, sterben wirst du, und dann werden dich deine Priester wohl mit sich nehmen, denn wie könnten sie es verweigern, wenn es keine Rückkehr gibt?«
»Ach, aber was, wenn es verschiedene Orte gibt? Was, wenn ich mich beim zweiten Mal an einer Stätte wiederfinde, wo Schwefel aus der kochenden Erde wallt, anstatt der Schönheit, die sich mir zuvor enthüllte? Ich bestehe nur aus Schmerzen. Selbst meine Tränen verbrühen mir die Haut. Vieles ist wie weggeblasen, ich kann mich nicht erinnern. Ach, mir scheint, ich sage diese Worte allzu häufig: Ich kann mich nicht erinnern!«
Ich streckte die Hand aus. Er rührte sich nicht. Meine Hand wurde schwer und sank auf das vergessene Gebetbuch, dessen steife Pergamentseiten ich unter meinen Fingern fühlte.
»Was hat Eure Liebe getötet? Waren es die Dinge, die ich tat? Dass ich den Mann herbrachte, der meine Brüder ermordete? Oder ist es, weil ich im Sterben solche Wunder sah? Antwortet mir!«
»Ich liebe dich noch immer. Und ich werde dich lieben, auf ewig, in jeder Nacht, die mir gegeben, und während all der Tage, die ich im Schlaf verbringe. Dein Gesicht ist wie ein Edelstein, den man mir anvertraute, und den ich nicht vergessen kann, auch wenn ich ihn törichterweise verlöre. Sein Glanz wird mich auf immer quälen. Amadeo, versuch dich zu erinnern, öffne deinen Geist wie eine Muschelschale und zeige mir das Kleinod, die Perle, das, was sie dich im Jenseits lehrten!«
»Könnt Ihr es denn, Meister? Könnt Ihr es verstehen, wie Liebe, und Liebe allein, so viel bedeuten soll, und dass die ganze Welt daraus gemacht ist? Selbst die Grashalme, die Blätter an den Bäumen, die Finger dieser Hand, die sich nach Euch ausstreckt? Liebe, Herr! Liebe. Und wer wird etwas so Einfaches und so Gewaltiges glauben, wenn es ausgeklügelte, verschlungene Weltanschauungen und Philosophien gibt, von Menschen erdacht und immer wieder verführerisch in ihrer Vielschichtigkeit? Dabei ist es einfach Liebe. Ich hörte ihren Klang, ich konnte sie sehen. Waren das die Wahnvorstellungen eines fieberheißen Geistes, eines Geistes, der sich vor dem Tode fürchtet?«
»Mag sein«, sagte er, immer noch mit diesem gefühllosen, unbewegten Antlitz. Seine Augen waren verengt, als scheuten sie vor dem zurück, was sie sehr wohl sahen. »Ah, ja«, sprach er. »Du stirbst, und ich lasse es geschehen, und ich glaube, dass es für dich nur ein einziges Ufer geben wird, und dort wirst du deine Priester wiederfinden und deine Stadt.«
»Meine Zeit ist noch nicht gekommen«, sagte ich. »Ich weiß es. Und diese Behauptung kann nicht nach einer Hand voll Stunden zurückgenommen werden. Zerschlage die tickende Uhr. Sie meinten, dass meine Zeit noch nicht gekommen sei, gemessen an der unsterblichen Seele. Das Schicksal, das schon in meine Kinderhand geprägt war, wird sich so bald nicht erfüllen, und ich werde es nicht einfach durchkreuzen können.«
»Ich kann die Chancen ändern, mein Kind«, sagte er.
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