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Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs

Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs

Titel: Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Kind, so allein und gefährdet, dass jeder mich bemitleiden muss, am Friedhof vorbeiging, kaufte ich diese Chrysanthemen und verweilte eine Zeit lang dort im Dunstkreis der frischen Gräber und ihrer modernden To ten und fragte mich, welchen Tod mir das Leben bestimmt hätte, wenn man mich hätte leben lassen. Fragte mich, ob ich als Mensch derart heftig hätte hassen können wie jetzt. Ob ich hätte so innig lieben können wie jetzt.«
     
    Indem Louis das Buch mit der linken Hand gegen seinen Schenkel presste, riss er vorsichtig mit der anderen Hand eine Seite heraus, hielt sie für einen Augenblick unter das Licht und übergab sie dann Merrick. Seine Augen folgten dem Blatt, als beginge er einen fürchterlichen Diebstahl.
    Sie nahm die Seite ehrerbietig entgegen und legte sie neben die Puppe auf ihren Schoß.
    »Denken Sie nun gut nach, ehe Sie antworten«, sagte sie. »Wussten Sie, wie Claudias Mutter hieß?«
    »Nein«, antwortete er sofort, doch dann zögerte er, schüttelte aber schließlich den Kopf und verneinte abermals leise. »Sie hat den Namen ihrer Mutter nie ausgesprochen?«
    »Sie sagte einfach Mutter, sie war ein kleines Mädchen.«
    »Überlegen Sie noch einmal«, forderte Merrick. »Erinnern Sie sich. Versetzen Sie sich zurück in diese ersten Nächte mit Claudia, wenn sie müde vor sich hin plapperte, wie es Kinder tun, denken Sie an die Zeit, bevor sie mit der Stimme der Frau die Erinnerungen in Ihrem Herzen überdeckte. Versetzen Sie sich dahin zurück. Wie hieß ihre Mutter? Ich brauche den Namen.«
    »Ich weiß ihn nicht«, gab Louis zu. »Ich glaube, sie hat nie … Aber ich habe auch nicht zugehört. Sehen Sie, die Frau war tot. So fand ich Claudia nämlich, an den Leichnam ihrer Mutter geklammert.« Ich merkte, dass er sich geschlagen sah. Ziemlich hilflos schaute er zu Merrick. Sie nickte. Sie senkte den Blick. Dann sah sie ihn erneut an, und als sie jetzt sprach, war ihre Stimme besonders freundlich. »Es gibt da noch etwas«, sagte sie. »Sie halten mir etwas verborgen.«
    Wieder schien er außerordentlich betrübt. »Wieso?«, fragte er entmutigt. »Was meinen Sie denn?«
    »Ich habe hier das beschriebene Blatt«, zählte Merrick auf, »ich habe die Puppe, die sie entgegen jeder Erwartung nicht zerbrochen hat. Aber Sie haben auch noch etwas.«
    »Oh, aber das bringe ich nicht über mich«, sagte er und zog schmerzlich die dunklen Brauen zusammen. Er fasste in sein Jackett und holte die kleine Daguerreotypie in der GuttaperchaHülle hervor. »Ich kann es nicht fortgeben, um es zerstören zu lassen«, flüsterte er.
    »Sie glauben, Sie würden es hinterher noch schätzen?«, fragte Merrick in besänftigendem Ton. »Oder Sie fürchten, dass unsere magischen Kräfte fehlschlagen?«
    »Ich weiß nicht«, gestand Louis. »Ich weiß nur, dass es geschehen soll.« Er nestelte an dem winzigen Verschluss, öffnete die Hülle und schaute darauf nieder, bis er, anscheinend unfähig, den Anblick länger zu ertragen, die Augen schloss. »Geben Sie es mir für meinen Altar«, bat Merrick. »Ich verspreche Ihnen, es bleibt heil.«
    Er rührte sich nicht und antwortete nicht. Er ließ es aber zu, dass sie ihm das Bild aus der Hand nahm. Ich beobachtete sie. Das Bild, dieses altertümliche, vergilbte Abbild eines Vampirs, auf ewig in dem zerbrechlichen Rahmen aus Silber und Glas gefangen, setzte sie in Erstaunen. »Ach, sie war entzückend, nicht wahr?«, fragte Louis.
    »Sie war vieles«, sagte Merrick. Sie schloss die GuttaperchaHülle, rührte jedoch den kleinen goldenen Verschluss nicht an. Sie legte das Bild in ihren Schoß zu der Puppe und der herausgetrennten Tagebuchseite und griff mit beiden Händen nach Louis’ rechter Hand. Sie streckte seine geöffnete Handfläche ins Lampenlicht, dann zuckte sie zusammen, als sei sie geschockt. »Ich habe noch nie eine solche Lebenslinie gesehen«, flüsterte sie. »Sie ist ganz tief eingegraben, sehen Sie nur, und sie hat irgendwie überhaupt kein Ende!« Sie drehte seine Hand hin und her. »Und die feineren Linien haben sich alle schon längst geglättet.«
    »Ich kann sterben«, entgegnete Louis mit höflichem Trotz. »Ich weiß, dass ich sterben kann«, wiederholte er traurig. »Und ich werde sterben, wenn ich den Mut dazu gefasst habe. Meine Augen werden sich für immer schließen, nicht anders als die eines jeden Sterblichen meiner Epoche.«
    Merrick sagte nichts darauf. Sie schaute wieder auf seine Handfläche, und ich sah, wie sehr ihr seine seidige

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