Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
früheren von den Wächterengeln, von denen die Menschentöchter die Zauberkunst gelernt hatten, als sie ihnen, wie es in der Schöpfungsgeschichte steht, beiwohnten.
Sogar der Engel Memnoch, der Lestat verführte, hatte seine persönliche Version dieser Geschichte enthüllt, nämlich, dass er während seines irdischen Umherschweifens von einer Tochter der Menschen verführt worden war. Aber damals in New Orleans wusste ich natürlich noch nichts über Memnoch. Ich hätte dieses Buch am liebsten für mich allein gehabt! Ich wollte jede einzelne Silbe lesen. Ich hätte das Papier und die Tinte gerne von unseren Sachverständigen untersuchen lassen ebenso wie den Stil des Textes.
Die meisten meiner Leser wird es nicht überraschen, dass es Leute gibt, die mit einem Blick das Alter eines solchen Buches nennen können. Zu diesen Leuten gehörte ich nicht, aber ich war mir ganz sicher, dass, was ich hier vor mir sah, einst in einem christlichen Kloster kopiert worden war, noch bevor Wilhelm der Eroberer seinen Fuß auf englischen Boden gesetzt hatte. Einfacher gesagt, das Buch stammte möglicherweise aus dem achten oder neunten Jahrhundert. Als ich mich vorbeugte, um die erste Seite zu lesen, sah ich, dass darin behauptet wurde, es sei eine »getreue Kopie« eines wesentlich früheren Textes, der von Noahs Sohn, von Ham selbst, stammte. Im Zusammenhang mit diesen Namen gab es viele übertriebene Geschichten. Aber das Wunderbare war, dass diese Abschrift Merrick gehörte und dass wir sie nun sehen durften.
Sie wiederholte: »Das Buch gehört mir, und ich weiß, wie man die Beschwörungen und Zaubersprüche anwendet. Ich kann sie alle.«
»Aber wer hat sie dich lesen gelehrt?«, fragte ich, ohne meine Begeisterung verbergen zu können.
»Matthew«, antwortete sie, »der Mann, der mich und Cold Sandra mit nach Südamerika nahm. Er war so aufgeregt, als er dieses und auch die anderen Bücher sah. Natürlich konnte ich schon ein wenig daraus selbst lesen, und die Große Nananne konnte es natürlich ganz lesen. Von all den Männern, die meine Mutter je mit nach Hause gebracht hat, war Matthew der beste. Als Matthew bei uns war, war alles friedlich und schön. Aber darüber wollen wir jetzt nicht reden. Sie müssen mir das Buch lassen.«
»Amen, du sollst es behalten«, sagte Aaron rasch. Ich glaube, er fürchtete, dass ich es verschwinden lassen wollte, aber das stimmte natürlich ganz und gar nicht. Ich wollte mich in Ruhe damit beschäftigen, das ja, aber nur, wenn das Kind es erlaubte.
Die Bemerkung nun, die Merrick über ihre Mutter hatte fallen lassen, die hatte mich natürlich mehr als neugierig gemacht. Ich dachte sogar, dass wir sie sofort befragen sollten, aber als ich damit begann, schüttelte Aaron streng verneinend den Kopf.
»Los, lassen Sie uns zurückfahren«, sagte Merrick. »Sie werden sie schon aufgebahrt haben.«
Wir ließen das kostbare Buch in Merricks Schlafzimmer in der oberen Etage und begaben uns zurück in die Stadt der Träume. Der Leichnam der großen Nananne war in einen taubengrauen Sarg mit Seidenfutter gebettet worden, der nun auf einem tragbaren Gestell in dem steifen vorderen Salon stand, den ich zuvor schon beschrieben habe. Im Lichte unzähliger Kerzen - das Licht der Deckenkronleuchter war grell und kalt, deshalb wurde er nicht angezündet - war der Raum beinahe schön, und man hatte die Große Nananne nun in ein weißseidenes Gewand mit gestickten rosafarbenen Röschen auf dem Kragen gehüllt, wohl ein bevorzugtes Stück ihrer Garderobe.
Um ihre gefalteten Hände hatte man einen schönen Rosenkranz aus Kristallperlen gewunden, und über ihrem Kopf hing vor dem Satin des Sargdeckels ein goldenes Kreuz. Ein samtüberzogener Betschemel, der ohne Zweifel vom Beerdigungsinstitut zur Verfügung gestellt worden war, stand neben dem Sarg, und viele Leute kamen und knieten dort nieder, bekreuzigten sich und beteten.
Auch jetzt wieder kamen ganze Völkerscharen, und sie neigten wirklich auffällig dazu, sich wie auf Befehl nach Hautfarben geordnet in Gruppen aufzuteilen, Weiße standen bei Weißen, Schwarze bei Schwarzen, und auch die Hellhäutigen blieben unter sich. Seitdem habe ich in New Orleans viele Situationen erlebt, in denen die Leute sich automatisch je nach Hautfarbe voneinander absondern. Aber damals kannte ich diese Stadt nicht. Ich wusste nur, dass die monströse Ungerechtigkeit der gesetzlich vorgeschriebenen Rassentrennung abgeschafft war, und ich wunderte mich, wie sehr
Weitere Kostenlose Bücher