Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
Jahre älter als ich.« Merrick hielt inne. Offensichtlich war sie sehr beunruhigt. Ich glaube, so hatte ich sie noch nicht gesehen, seit sie erwachsen war. »Die Familie von Onkel Vervain mütterlicherseits bewahrte die Geheimnisse«, sagte sie. »In meinen Träumen tauchen so viele Gesichter auf …« Sie schüttelte den Kopf, als müsse sie ihre Gedanken ordnen. Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Onkel Vervain redete ständig mit Cold Sandra. Wenn er damals nicht gestorben wäre, vielleicht wäre sie dann anders geworden. Aber schließlich war er schon alt, seine Zeit war gekommen.«
»Und in den Träumen sagt Onkel Vervain dir nicht, wo die Höhle ist?«
»Er versucht es«, antwortete Merrick traurig. »Ich sehe Bilder, Bruchstücke. Ich sehe den brujo, den Priester, der einen Felsen beim Wasserfall erklimmt. Ich sehe einen großen Stein, in den Linien, ähnlich einem Gesicht, eingeritzt sind. Ich sehe Weihrauch und Kerzen, Federn von Urwaldvögeln, Federn in wunderbaren Farben und Speiseopfer.«
»Ich verstehe«, sagte ich.
Merrick wippte ein wenig in ihrem Sessel. Ihre Augen wanderten von einer Seite zur anderen. Dann nahm sie einen weiteren Schluck Rum. »Natürlich kann ich mich von der damaligen Reise her an einiges erinnern«, sagte sie schleppend.
»Du warst erst zehn«, stellte ich verständnisvoll fest. »Und du darfst nicht denken, dass du dich wegen deiner Träume jetzt sofort aufmachen musst.«
Das ignorierte sie. Sie trank ihren Rum und starrte auf den Altar. »Da unten gibt es so viele Ruinen, es gibt so viele Senken in der Hochebene«, sagte sie, »so viele Wasserfälle, so viele von Wolken verhüllte Wälder … Mir fehlt noch eine Information. Nein, eigentlich zwei. Ich muss den Namen der Stadt wissen, die wir von Mexico City aus anflogen, und den Namen des Dorfes, in dem wir unser Lager hatten. Wir sind mit zwei Flugzeugen geflogen, um zu der Stadt zu kommen. Ich kann mich nicht an die Namen der Orte erinnern, wenn ich sie überhaupt je gekannt habe. Ich glaube, ich habe damals gar nicht darauf geachtet. Ich habe im Dschungel gespielt. Ich war oft allein unterwegs. Ich wusste kaum, warum wir da waren.«
»Liebling, hör mir zu …«, begann ich.
»Nein, gibt dir keine Mühe. Ich muss dahin zurück«, sagte sie scharf.
»Nun, ich nehme an, du hast all deine Bücher über dieses Dschungelgebiet durchkämmt. Hast du Listen von den Städten und Dörfern angefertigt?« Ich brach ab. Ich musste mir ins Gedächtnis rufen, dass diese ge fährliche Fahrt gar nicht erst stattfinden sollte.
Zuerst antwortete sie mir nicht, und dann schaute sie mich ganz bewusst an, mit Augen, die ungewöhnlich hart und kalt wirkten. Das Licht der Kerzen und Lampen ließ ihre Augen in schönstem Grün leuchten. Mir fiel auf, dass Merrick ihre Fingernägel in dem gleichen leuchtenden Violett lackiert hatte wie ihre Zehen. Wieder erschien sie mir als die Inkarnation aller je gehegten Sehnsüchte. »Natürlich habe ich das schon gemacht«, sagte sie sanft. »Aber jetzt muss ich den Namen des letzten Dorfes, diesen Vorposten, herausfinden, und den Namen der Stadt, zu der uns der letzte Flug führte. Wenn ich das geschafft hätte, könnte ich aufbrechen.« Sie seufzte. »Besonders das Dorf mit dem brujo gibt es schon seit Jahrhunderten, unzugänglich, und es wartet auf uns - wenn ich die Namen kennen würde, wüsste ich den Weg wieder.«
»Wie willst du das anstellen?«, fragte ich.
»Honey weiß ihn«, antwortete Merrick. »Honey in the Sunshine war auf dieser Reise schon sechzehn. Sie wird sich erinnern. Sie wird es mir sagen.«
»Merrick, du kannst nicht Honeys Geist heraufbeschwören!«, sagte ich. »Du weißt, dass das viel zu gefährlich ist, es ist absolut leichtsinnig, das kannst du nicht …«
»David, du bist doch da!«
»Guter Gott, ich kann dich nicht beschützen, wenn du diesen Geist herbeirufst!«
»Aber du musst mich beschützen. Du musst mich beschützen, denn Honey wird unverändert schrecklich sein, sie hat sich nicht geändert. Sie wird versuchen, mich zu vernichten, wenn sie sich manifestiert.«
»Dann lass es sein.«
»Ich muss! Ich muss es tun, und ich muss noch einmal in diese Höhle. Als Matthew Kemp im Sterben lag, versprach ich ihm, seine Entdeckungen zu veröffentlichen. Ihm war nicht klar, dass er mit mir sprach. Er dachte, es wäre Cold Sandra oder gar Honey oder seine Mutter, was weiß ich! Aber ich habe es versprochen. Ich habe versprochen, dass die Öffentlichkeit von
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