Chronik der Vampire 08 - Blut und Gold
Zenobia nicht weniger bezaubernd als bisher. Sie wirkte nun wie ihre ältere, klügere Schwester. Und als sie lachend am Tisch in der Taverne über dem üblichen verschwendeten Becher Wein saß, überlegte ich schon halb, sie dazu zu bewegen, mit mir zu kommen, aber letztlich wusste ich, dass das nicht ging.
»Weißt du, du siehst eigentlich trotzdem nicht wie ein Mann aus«, sagte ich lächelnd zu ihr, »kurzes Haar hin oder her.« Sie lachte. »Natürlich nicht, das weiß ich. Aber hier in dieser Schenke zu sein, die ich ohne dich nie zu Gesicht bekommen hätte!«
»Du kannst nun tun, was immer du willst«, erklärte ich ihr. »Denk doch nur! Du kannst Mann oder Frau sein. Oder keins von beidem. Such dir die Übeltäter, so wie ich, und so wird dir der Tod, den du bringst, nie das Herz schwer machen. Aber niemals, in Freude oder Leid, setze dich dem Urteil anderer aus. Schätze deine Kräfte ab, und nimm dich in Acht.«
Sie nickte, ihre Augen voller Faszination weit geöffnet. Natürlich warfen die Männer in der Schenke ihr Blicke zu. Sie dachten, ich hätte meinen hübschen Knaben auf einen Umtrunk mitgebracht. Ehe mir die Sache aus der Hand glitt, ging ich mit ihr hinaus, aber nicht, ehe sie ihre Fähigkeit erprobt hatte, die Gedanken der Anwesenden zu lesen und außerdem den armen kleinen Sklaven, der uns den Wein gebracht hatte, in Trance zu versetzen. Während wir durch die Straßen wanderten, unterwies ich sie aufs Geratewohl darin, wie es in der Welt zugeht – was für sie von Nutzen sein würde. Ich empfand entschieden zu viel Freude dabei. Sie erzählte mir alle Geheimnisse des kaiserlichen Palastes, damit ich mich leichter hineinschleichen und meine Neugier befriedigen konnte, und danach fanden wir uns in der nächsten Taverne wieder.
Ich warnte sie: »Irgendwann wirst du mich für das, was ich Eudoxia und ihren Bluttrinkern antat, hassen.«
»Nein, bestimmt nicht«, sagte sie schlicht. »Verstehst du? Eudoxia erlaubte mir kein Minute der Freiheit, und was die andern anging – sie hatten nur Verachtung und Eifersucht für mich übrig.« Ich nickte und nahm die Antwort so hin, aber dann fragte ich: »Warum, glaubst du, erzählte mir Eudoxia ihre Lebensgeschichte, erzählte mir, wie sie selbst als Knabe verkleidet in Alexandria umherzog, wo sie doch dir gegenüber das alles nie erwähnte?«
»Sie hegte die vage Hoffnung, dich lieben zu können«, antwortete Zenobia. »Sie vertraute es mir an, nicht direkt, verstehst du, aber so, wie sie dich beschrieb, ihre Begeisterung darüber, dich gesehen zu haben… Aber zu diesen Gefühlen gesellten sich Vorsicht und Schläue. Und ich glaube, die Furcht vor dir trug den Sieg davon.«
Ich schwieg nachdenklich; der Lärm der Schenke im Hintergrund klang wie Musik.
Zenobia beobachtete mich, dann sagte sie: »Von mir erwartete sie nicht, dass ich ihr Inneres verstand. Ich war ein Spielzeug für sie, das genügte ihr. Und selbst wenn ich ihr vorlas oder für sie sang, hatte sie kaum einen Blick für mich oder interessierte sich für mich. Aber dich betrachtete sie als jemanden, der ihrer selbst wert war. Wenn sie von dir sprach, tat sie das, als ob es keine Zuhörer gäbe. Sie redete und redete, machte Pläne, wie sie dich herbefehlen und mit dir sprechen könnte. Sie war wie besessen und gleichzeitig voller Furcht. Verstehst du?«
»Es ging alles schief«, klagte ich. »Aber komm, du musst noch viel lernen! Und wir haben nicht mehr viele Stunden bis zur Morgendämmerung.«
Wir gingen hinaus in die Nacht, die Hände fest ineinander verschränkt. Wie sehr ich es genoss, ihr etwas beizubringen! Es lag für mich eine Art Zauber darin. Ich zeigte ihr, wie man mühelos Wände erklomm, wie einfach es war, von Schatten verborgen an Sterblichen vorbeizuhuschen, und wie man sterbliche Opfer anlockte. Wir schlichen uns in die Hagia Sophia, etwas, das sie für ganz unmöglich gehalten hatte, und sie sah zum ersten Mal, seit sie zum Vampir gemacht worden war, diese gewaltige Kirche, die ihr als Sterbliche einst so vertraut gewesen war.
Nachdem wir uns beide in einer verschwiegenen Gasse ein Opfer gegen den nächtlichen Durst beschafft hatten, wobei Zenobia ihre beträchtliche neu gewonnene Kraft kennen lernte, kehrten wir schließlich zu Eudoxias Haus zurück.
Dort suchte ich die Dokumente zu den Besitzverhältnissen des Hauses heraus, begutachtete sie zusammen mit Zenobia und machte ihr Vorschläge, wie sie es für sich beanspruchen könnte. Avicus und Mael waren beide
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