Chronik der Vampire 08 - Blut und Gold
verlangte nach der hellen, neuen Welt Italiens, nach den klugen Gelehrten und den Künstlern dieser Epoche. Ich wünschte, ich wäre in den Palästen der Ewigen Stadt, die nach all den unglücklichen Jahren für die Kardinäle und anderen Würdenträger errichtet worden waren. Ich versuchte, den Burschen namens Santino aus meinem Kopf zu verbannen, und näherte mich einem der neuen Paläste, wo gerade ein Fest stattfand, ein Maskenball mit Tanz und reich gedeckten Tafeln.
Ich hatte keinerlei Schwierigkeiten, Zutritt zu erlangen. Ich trug ein modernes, edles Samtgewand, und als ich erst einmal eingetreten war und mich unter die Gäste gemischt hatte, war ich ebenso willkommen wie jeder andere auch.
Ich trug keine Maske, aber mein weißes Gesicht wirkte wie eine Maske, dazu hatte ich meinen üblichen roten Kapuzenumhang an, der mich unter den Gästen hervorhob und mich doch gleichzeitig zu einem der ihren machte.
Die Musik war betäubend. An den Wänden funkelten herrliche Gemälde in glühenden Farben, doch keines besaß den magischen Zauber wie die in der Sixtinischen Kapelle. Die riesige Gästeschar war in üppige Stoffe gekleidet.
Schnell fand ich mich in einer Unterhaltung mit den jüngeren Gelehrten, denen, die hitzig über Malerei und Dichtkunst redeten, und ich stellte stumm meine Frage: Wer hat die hervorragenden Fresken in der Sixtinischen Kapelle gemalt?
»Ihr habt die Gemälde gesehen?«, fragte einer aus der Menge. »Das glaube ich nicht. Wir durften sie bisher nicht sehen. Beschreibt sie mir doch.«
Ich schilderte sie in ganz schlichten Worten, als wäre ich ein Schulkind.
»Die Gestalten sind überaus grazil«, erklärte ich, »mit empfindsamem Antlitz, und obwohl sie alle vollkommen naturalistisch gemalt sind, sind sie doch ein ganz klein wenig zu lang geraten.« Die Gesellschaft, die mich umringte, lachte gutmütig.
»Etwas zu lang geraten«, wiederholte einer der Älteren. »Wer hat das gemalt?«, drängte ich. »Den Mann muss ich treffen.«
»Dafür müsstet Ihr nach Florenz gehen«, sagte der ältere Gelehrte. »Ihr sprecht von Botticelli, und der ist schon wieder in seine Heimatstadt gereist.«
»Botticelli«, flüsterte ich. Das war ein seltsamer, fast schon lächerlicher Name. Übersetzt bedeutete er »kleiner Bottich«. Aber für mich bedeutete er »strahlende Größe«. »Ihr seid sicher? Botticelli?«, fragte ich.
»O ja«, antwortete der Gelehrte. Die anderen im Kreis nickten zustimmend. »Alle staunen über das, was er vollbringt. Darum hat der Papst ihn auch kommen lassen. Zwei Jahre hat er hier an der Sixtinischen Kapelle gearbeitet. Jeder kennt ihn. Und ohne Zweifel ist er in Florenz nun ebenso beschäftigt wie vorher hier.«
»Ich möchte ihn nur einfach mit eigenen Augen sehen«, sagte ich.
»Wer seid Ihr?«, fragte einer der Gelehrten.
»Ein Niemand«, flüsterte ich, »ein absoluter Niemand.« Allgemeines Gelächter klang auf. Es schien sich bezaubernd mit der Musik und dem Strahlen der Kerzen ringsum zu mischen. Ich fühlte mich vom Duft der Sterblichen und meinen Träumen von Botticelli wie berauscht.
»Ich muss Botticelli finden«, flüsterte ich. Und mit einem Lebwohl an alle ging ich in die Nacht hinaus.
Aber was würde ich machen, wenn ich ihn gefunden hatte, das war die Frage. Was trieb mich? Was wollte ich? Alle seine Werke sehen, das war erst einmal sicher, aber wonach verlangte meine Seele sonst noch?
Ich fühlte mich so einsam, wie ich alt war, und das ängstigte mich. Ich kehrte zur Sixtinischen Kapelle zurück.
Den Rest der Nacht verbrachte ich damit, mich in die Fresken zu vertiefen. Kurz vor Sonnenaufgang stieß ein Wächter auf mich. Ich wich nicht aus. Indem ich die Gabe der Suggestion nutzte, überzeugte ich ihn sanft, dass ich hier, wo ich war, hingehörte. Dann fragte ich ihn: »Wer ist die Gestalt auf den Bildern? Der erhabene Mann mit dem Bart und dem goldenen Licht, das von seinem Kopf ausstrahlt?«
»Moses«, antwortete der Wächter, »Ihr wisst schon, Moses, der Prophet. In dem Bild geht es um Moses; und das andere handelt von Christus.« Er zeigte mit dem Finger. »Seht Ihr nicht die Inschrift?« Sie war mir noch nicht aufgefallen, aber nun las ich: »Die Versuchung des Moses, der die Gebote des Herrn trägt«. Ich seufzte. »Ich wünschte, mir wäre die Geschichte bekannt«, sagte ich. »Aber die Bilder sind so überragend, dass die Geschichte ganz unwichtig ist.«
Der Wächter zuckte nur mit den Achseln.
»Hast du Botticelli kennen
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