Chronik der Vampire 08 - Blut und Gold
Bad, wusch ihn eigenhändig und bedeckte ihn mit Küssen. Die Intimitäten, die er seinen Quälern verweigert hatte, entlockte ich ihm mit Leichtigkeit, so sehr blendeten und verwirrten ihn meine schlichte, liebevolle Zuwendung und die Worte, die ich in seine zierlichen Ohren flüsterte. Sehr schnell lehrte ich ihn die Freuden, die er sich zuvor nie zugestanden hatte. Er war benommen und schwieg; aber seine Gebete um Erlösung waren verstummt.
Doch selbst hier in der Sicherheit dieses Gemachs, in den Armen dessen, den er als seinen Heiland ansah, fand kein Erinnerungsfunke aus den Winkeln seines Geistes den Weg in die Sphären der Vernunft. Vielleicht verstärkten meine eindeutig fleischlichen Umarmungen die Wand in seinem Geist, die Vergangenheit und Gegenwart trennte, sogar noch mehr.
Was mich betraf, so hatte ich noch nie eine so weitgehende Intimität mit einem Sterblichen erlebt, außer mit denen, die ich tötete. Schauer überliefen mich, als ich die Arme um den Knaben schlang, ihm meine Lippen auf Wangen und Kinn drückte, auf die Stirn und seine zarten Augenlider. Sicher, der Blutdurst regte sich, aber ich wusste gut, wie er im Zaum zu halten war. Tief sog ich den Duft des jugendlichen Fleisches ein. Ich wusste, ich konnte mit dem Knaben tun, was ich wollte. Keine Macht zwischen Himmel und Hölle konnte mich davon abhalten. Und Satan musste mir nicht erst einflüstern, dass ich diesen Knaben in meine Welt hinüberbringen und ihn im Blut der Finsternis erziehen könnte.
Mit weichen Tüchern trocknete ich ihn ab und brachte ihn zurück ins Bett. Dann setzte ich mich an meinen Schreibtisch, von wo aus ich ihn betrachten konnte, wenn ich den Kopf wandte, und da erst erkannte ich das ganze Ausmaß dieser Idee, die köstlich war wie mein Verlangen nach Botticelli und schrecklich wie meine Leidenschaft für die liebliche Bianca: Dies war ein Findling, den ich für das Leben mit Dem Blut erziehen konnte. Gerade diesen Knaben, der für das normale Leben gänzlich verloren war, konnte ich für Das Blut gewinnen. Wie lange müsste ich ihn schulen? Eine Nacht, eine Woche, einen Monat, ein Jahr? Es lag ganz allein bei mir. Letztlich würde ich ihn zu einem Kind der Finsternis machen.
Ich dachte an Eudoxia, an ihre Äußerung über das perfekte Alter, Das Blut zu empfangen. Ich erinnerte mich an Zenobia, an ihre rasche Auffassungsgabe, ihre wissenden Augen, erinnerte mich auch an meine damaligen Überlegungen, zu welchen Hoffnungen eine Jungfrau berechtigte, da man sie nach Belieben formen konnte, ohne mit Schmerz dafür zahlen zu müssen. Und dieser Knabe, vor der Sklaverei errettet, war ein Maler gewesen! Er kannte den Zauber des Farbenmischens, kannte den Zauber der aufs Paneel gebannten Farben. Irgendwann würde er sich bestimmt erinnern, dass für ihn einst nichts anderes wichtig gewesen war.
Sicher, das war im fernen Russland gewesen, wo sich besonders die Maler in den Klöstern auf den byzantinischen Stil beschränkten, den ich für mich persönlich schon damals abgelehnt hatte, als ich dem griechischen Reich den Rücken kehrte, um mich im zerstrittenen Westen Europas niederzulassen. Aber schau, was dann geschehen war: Der Westen war im Schlachttaumel versunken, und in der Tat hatten die Barbaren den Krieg ganz und gar für sich gewonnen. Und doch war Rom wieder auferstanden – durch die großen Denker und Maler des 15. Jahrhunderts! Die Werke Botticellis und Bellinis und Filippo Lippis bewiesen es wie hundert andere auch. Homer, Lukrez, Vergil, Ovid, Plutarch – sie alle wurden wieder gelesen und gelehrt. Die gelehrten Anhänger des »Humanismus« sangen Lobeshymnen auf die »Klassik«.
Kurz gesagt, der Westen war mit neuen, fabelhaften Städten wieder groß geworden, wohingegen Konstantinopel, das alte goldene Konstantinopel, an die Türken verloren gegangen war, die es in Istanbul umbenannt hatten.
Aber weit nördlich von Istanbul lag Russland, wo dieser Junge gefangen genommen worden war, Russland, wo die Christen sich an Konstantinopel orientierten, weswegen dieser Knabe hier nur den strengen, ernsten Malstil der Ikonen mit ihrer starren Schönheit kannte, eine Kunstform, die sich von meinen Malereien unterschied wie der Tag von der Nacht.
Und doch existierten in Venedig diese beiden Kunstformen einträchtig nebeneinander: der byzantinische und der neue Stil dieser Epoche.
Wie war es dazu gekommen? Durch den Handel. Seit seiner Gründung war Venedig ein Seehafen, und seine riesige Handelsflotte
Weitere Kostenlose Bücher