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Chronik der Vampire 08 - Blut und Gold

Chronik der Vampire 08 - Blut und Gold

Titel: Chronik der Vampire 08 - Blut und Gold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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verkehrte zwischen Ost und West, als Rom in Schutt und Asche lag. Und viele Kirchen Venedigs bewahrten den byzantinischen Kunststil, der im gequälten Hirn des Knaben so viel Raum einnahm. Diese Kirchen hatten mir zugegebenermaßen bisher nicht viel bedeutet, nicht einmal die dem Dogen geweihte Markuskirche hatte mich sehr interessiert. Das änderte sich jetzt, denn sie halfen mir, mich aufs Neue und besser mit dieser Kunstform auseinander zu setzen, die der Knabe so sehr liebte. Ich betrachtete ihn, wie er da schlafend lag. Nun gut. Sein Wesen war mir nicht völlig fremd; ich verstand, dass er litt. Aber wer war er wirklich? Ich stellte die gleiche Frage, die Bianca und ich uns gegenseitig gestellt hatten. Nur die Antwort blieb offen, doch die musste ich erfahren, ehe ich meine Pläne, ihn auf ein Leben als Bluttrinker vorzubereiten, weiterspinnen konnte. Wie lange würde das dauern? Eine Nacht? Hundert? Zumindest würde es nicht ewig dauern. Ich war Amadeos Schicksal.
    Ich wandte mich wieder meinem Tagebuch zu und schrieb. Nie zuvor war mir ein solcher Plan in den Sinn gekommen – einen Novizen auf ein Leben als Bluttrinker vorzubereiten! Ich schrieb die Ereignisse dieser Nacht nieder, damit ich sie nicht später in der Erinnerung aufbauschte. Ich zeichnete ein paar Skizzen von Amadeo, während er schlief.
    Wie kann ich ihn beschreiben? Seine Schönheit hing nicht von seinem Mienenspiel ab. Sie war seinem Gesicht aufgeprägt, zeigte sich in den fein geformten Zügen, dem klar geschnittenen Mund, den kastanienfarbenen Locken. Mit leidenschaftlicher Feder schrieb ich in mein Tagebuch:
     
    Dieser Knabe stammt aus einer von der unseren so verschiedenen Welt, dass er nicht versteht, was ihm widerfahren ist. Aber ich kenne das schneereiche Russland. Ich weiß von dem trübseligen Leben in den russischen und griechischen Klöstern; und in einem solchen hat er die Ikonen gemalt, über die er jetzt nicht sprechen kann, davon bin ich fest überzeugt. Was unsere Sprache angeht, so kennt er davon bisher nur die grausame Seite. Wenn meine Jungen ihn in ihrer Mitte aufnehmen, kann er sich möglicherweise bald an seine Vergangenheit erinnern. Dann wird er vielleicht wieder zum Pinsel greifen, und sein Talent wird wieder zum Vorschein kommen.
     
    Ich legte die Feder ab. Nicht alles konnte ich meinem Tagebuch anvertrauen. Nein, bei weitem nicht. Die großen Geheimnisse schrieb ich oftmals statt in Latein in Griechisch auf, aber selbst in dieser Sprache konnte ich nicht alle meine Gedanken auf Papier bannen.
    Ich sah zu dem Jungen hinüber. Ich nahm den Kandelaber mit zum Bett und schaute auf ihn nieder, wie er da ruhig atmend lag, endlich unbeschwert, als wäre er in guter Hut. Langsam öffnete er die Augen und schaute zu mir auf. Er fürchtete sich nicht. Eigentlich wirkte er noch wie im Traum befangen. Ich bediente mich der Gabe des Geistes. Erzähl mir alles, Kind, öffne mir deine Seele.
    Ich sah, wie sich Steppenreiter auf ihn und seine Begleiter stürzten. Ich sah, wie ein Bündel aus der bebenden Hand des Jungen fiel. Die Stoffumhüllung verrutschte. Eine Ikone kam zum Vorschein, und der Junge schrie erschreckt auf, doch die grausamen Barbaren wollten nur ihn. Es waren dieselben Barbaren, die auch die Plünderungen und Angriffe an den Nord- und Ostgrenzen des römischen Reiches nie aufgegeben hatten. Würden die nie aussterben?
    Diese verruchten Männer hatten den Knaben auf einen orientalischen Basar verschleppt. Istanbul etwa? Und von dort weiter nach Venedig, wo er einem Bordellbesitzer in die Hände gefallen war, der für ihn um seines hübschen Aussehens willen eine enorme Summe gezahlt hatte.
    Die Grausamkeit, die Unerklärlichkeit des Ganzen – beides hatte er nicht verkraften können. In anderen Händen als den meinen würde er möglicherweise nie wieder genesen. Doch drückte sein stummer Blick nur tiefes Vertrauen aus.
    »Herr«, sagte er leise auf Russisch.
    Mir stellten sich all die kleinen Härchen an meinem Körper auf. Wie gerne hätte ich ihn aufs Neue mit meinen kalten Fingen berührt, aber ich wagte es nicht. Ich kniete neben dem Bett nieder, beugte mich vor und drückte ihm einen gefühlvollen Kuss auf die Wange.
    »Amadeo«, sagte ich, damit er seinen neuen Namen erfuhr. Und dann erklärte ich ihm ebenfalls auf Russisch, dass er zu mir gehörte, dass ich sein Herr war, wie er es gerade gesagt hatte. Ich helfe dir, alles wird wieder gut, gab ich ihm zu verstehen. Er brauchte sich nie wieder zu sorgen

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