Chronik der Vampire 08 - Blut und Gold
oder zu fürchten. Es war beinahe Morgen. Ich musste fort.
Schon klopfte Vincenzo. Die älteren meiner Lehrlinge warteten draußen. Sie hatten gehört, dass eine neuer Junge ins Haus gekommen war.
Ich erlaubte ihnen einzutreten und erklärte ihnen, dass sie sich um Amadeo kümmern mussten, sie sollten ihn mit den Wundern unseres normalen Alltags vertraut machen. Sicher, für eine Weile sollten sie ihn noch ruhen lassen, aber dann konnten sie ihn mit in die Stadt nehmen; das war vielleicht sogar das Beste.
»Riccardo!«, sprach ich den Ältesten an. »Du nimmst ihn unter deine Fittiche!« Ich belog mich selbst! Ich überlegte. Ja, ich belog mich selbst, wenn ich ihn ins Tageslicht entließ, ihn anderen als mir selbst überließ.
Aber die aufgehende Sonne ließ mir keine Zeit, ich musste fort. Was blieb mir anderes übrig?
Ich begab mich zu meiner Gruft. Und dort in der Dunkelheit legte ich mich nieder und träumte von ihm.
Er war mein Ausweg – aus meiner Liebe zu Botticelli, aus meiner Besessenheit von Bianca und dem quälenden Schuldbewusstsein. Ich hatte jemanden gefunden, dem Tod und Grausamkeit schon ihr Mal aufgedrückt hatten. Und Das Blut war das Lösegeld. Ja, alles hatte sich aufs Wunderbarste gelöst.
Nur, wer war der Knabe? Was war er? Ich kannte seine Erinnerungen, kannte die Visionen, die Gräuel, die Gebete, nur nicht seine Stimme! Und trotz meiner offen eingestandenen Überzeugung quälte mich etwas. Liebte ich dieses Kind vielleicht schon zu sehr, um durchzuführen, was ich mit ihm vorhatte? In der folgenden Nacht erwartete mich eine wunderbare Überraschung. Beim Nachtmahl traf ich Amadeo in einem prächtigen Anzug aus blauem Samt an, in ebenso kostbarer Tracht wie die anderen Jungen. Sie hatten auf die schnelle Fertigstellung seiner Kleider gedrängt, weil sie mir eine Freude machen wollten, und das war ihnen gelungen – ich war ziemlich verblüfft. Als Amadeo niederkniete, um meinen Ring zu küssen, war ich sprachlos; ich zog ihn hoch und küsste ihn rasch auf beide Wangen. Er war noch geschwächt von dem, was er durchgemacht hatte, das sah ich, aber die anderen Jungen hatten sich ebenso wie Riccardo große Mühe gegeben, ein wenig Farbe in sein Gesicht zu zaubern.
Während des Mahles erläuterte Riccardo mir, dass Amadeo nicht malen könne. Er weiche sogar furchtsam vor Farben und Pinsel zurück. Außerdem verstehe er nichts, aber er schnappe mit erstaunlicher Geschwindigkeit Wörter unserer Sprache auf. Der schöne Knabe mit dem rötlichen Haar, den ich Amadeo nannte, ließ seinen Blick auf mir ruhen, während Riccardo sprach. Und dann wiederholte er auf Russisch das Wort »Herr«, sodass die anderen es nicht verstehen konnten.
Du gehörst mir. Das antwortete ich ihm mit der Gabe des Geistes. Die Worte ließ ich ihn im weichen Tonfall seiner Sprache hören. Erinnere dich. Wo warst du früher? Ehe sie dir ein Leid antaten? Versetze dich dahin zurück. Denk an die Ikone. Denk an das Antlitz Christi. Ein ängstlicher Ausdruck huschte über sein Gesicht. Riccardo, der sich nicht vorstellen konnte, wieso, ergriff schnell seine Hand und begann, ihm die Gegenstände auf der Tafel mit Worten zu bezeichnen. Und wie aus einem Albtraum aufgeschreckt, lächelte Amadeo Riccardo zu und sprach die Worte nach. Wie präzise und fein seine Stimme war. Wie sicher die Aussprache. Wie aufgeweckt der Blick seiner braunen Augen.
»Er soll alles lernen«, sagte ich, an Ricardo und die am Tisch versammelten Lehrer gewandt. »Sorgt dafür, dass er Tanzen, Fechten und vor allem Malen lernt. Zeigt ihm jedes Gemälde, jede Skulptur im Hause. Zeigt ihm ganz Venedig, und kümmert euch darum, dass er alles Wissenswerte darüber erfährt.« Dann zog ich mich allein in mein Studio zurück. Dort rührte ich hastig die Farben an und malte ein kleines Porträt von Amadeo, so, wie er beim Essen erschienen war – in der blauen Samttunika und sein glänzendes Haar hübsch frisiert.
Meine elenden, rastlos kreisenden Gedanken hatten mich ganz schwach gemacht. Anders gesagt, mir war meine Überzeugung abhanden gekommen. Konnte ich denn diesem Knaben den Kelch des Lebens entreißen, den er gerade erst zu kosten begann? Er war tot gewesen und zum Leben erweckt worden. Mit meinen glänzenden Plänen für Amadeo hatte ich mich selbst dessen beraubt, der ein Kind des Finsteren Blutes werden sollte. Von da an gehörte Amadeo lange Monate dem Licht des Tages. Ja, ich musste ihm die Chance geben, das helle Leben auszukosten, damit
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