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Chronik der Vampire 08 - Blut und Gold

Chronik der Vampire 08 - Blut und Gold

Titel: Chronik der Vampire 08 - Blut und Gold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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wie gut ich dieses Antlitz kannte. Hatte ich es nicht so tausendmal in Byzanz und im gesamten byzantinischen Machtbereich gesehen, in Ost und West?
    Was war dieses Gemenge aus Sprache und Bildern? Was hatte es zu bedeuten, dass dieses Kind fortwährend an eine Ikone dachte, dass es sich nicht bewusst war, dass es betete? Und wieder das verzweifelte Flehen des Jungen, der doch glaubte, ganz still zu sein.
    Ich kannte die Sprache des Gebetes. Es war mir ein Leichtes, sie zu entwirren, die Wörter in die richtige Reihenfolge zu bringen, da ich so viele Sprachen vieler Länder kannte. Ja, ich erkannte die Sprache, und ich erkannte das Gebet. »Lieber Gott, erlöse mich. Lieber Gott, lass mich sterben.«
    Ein zerbrechliches, hungriges Kind, ein Kind, das ganz allein war.
    Ich setzte mich in der Gondel auf und lauschte. Ich tauchte nach Bildern, die in den sprachlosen Tiefen seines Geistes eingeschlossen waren.
    Dieser geschundene Junge war einst ein Maler gewesen. Das Antlitz Christi, das ich gesehen hatte, es war sein Werk gewesen. Einst hatte er auf die gleiche Art, wie ich es tat, das Eigelb mit den Farbpigmenten gemischt. Einst hatte er das Antlitz Christi gemalt, immer und immer wieder. Von wo kam diese Stimme? Ich musste es herausfinden. Ich wandte mein ganzes Geschick daran. Irgendwo hier in der Nähe wurde dieser Knabe gefangen gehalten. Irgendwo, nicht fern von hier, betete er mit seinem letzten Atem.
    Im fernen verschneiten Russland hatte er einst diese kostbaren Ikonen gemalt, ihm war diese große Gabe verliehen. Nur konnte er sich nicht daran erinnern. Das war mysteriös. Es war verzwickt und kompliziert. Der Junge war gebrochen, er wusste nichts von diesen Bildern, die ich in seinem Geist sah. Ich allerdings verstand, was ihm unverständlich war. In einem russischen Dialekt flehte er stumm, dass der Himmel ihn von denen erlösen möge, die ihn versklavt hatten und ihn nun zum Dienst in einem venezianischen Bordell zwingen wollten, wo er Dinge treiben sollte, die für ihn unaussprechliche Sünden des Fleisches waren!
    Ich befahl meinem Gondelführer zu halten. Ich lauschte noch einen Moment, bis ich den Ursprung gefunden hatte, und dirigierte das Boot dann ein paar Türen zurück, bis an die richtige Stelle. Fackeln brannten hell vor dem Eingang. Ich konnte Musik hören. Die geistige Stimme des Jungen war beharrlich, doch ich erkannte ganz klar, dass seine Gebete dem Unterbewusstsein entsprangen und er weder seine Vergangenheit noch seine Muttersprache kannte.
    Der Hausherr begrüßte mich mit viel Getue. Man hätte von mir gehört. Ich müsse unbedingt eintreten. Ich könne bei ihnen haben, was immer ich wollte. Hinter der Tür liege das Paradies. Hörte ich nicht das Lachen und Singen?
    »Was ist Euer Begehr, Herr?«, fragte ein Mann mit angenehmer Stimme. »Ihr könnt es mir ruhig sagen. Wir haben hier keine Geheimnisse.«
    Ich stand und lauschte. Wie distanziert muss ich gewirkt haben – der große blonde Mann mit dem eisigen Benehmen, der den Kopf zur Seite neigte und gedankenvoll mit seinen blauen Augen ins Leere blickte.
    Ich versuchte, mit der Gabe des Geistes den Knaben zu sehen, aber es funktionierte nicht. Er war irgendwo eingeschlossen, wo ihn niemand finden konnte. Wie sollte ich vorgehen? Sollte ich darum bitten, dass man mir alle Knaben vorführte? Aber das hatte keinen Sinn, denn der Besagte war zur Strafe allein in einer kalten Kammer eingeschlossen.
    Und dann wusste ich es plötzlich, als hätten Engel mir die ganze Antwort zugeflüstert – oder eher der Teufel? »Ihr versteht, ich möchte kaufen«, sagte ich, »natürlich mit Gold, und sofort. Ihr habt da einen Knaben, gerade erst eingetroffen, den Ihr loswerden wollt, weil er nicht tut, was er soll.« Und nun sah ich den Jungen in einem kurzen Aufblitzen durch die Augen des Mannes. Nur – das konnte nicht wahr sein! Ein solches Glück konnte ich nicht haben. Denn die Schönheit dieses Knaben kam der Biancas gleich. Damit hatte ich nicht gerechnet.
    »Erst kürzlich aus Istanbul gekommen«, fuhr ich fort. »Ja, so ist es wohl, da der Junge zweifellos aus einer Gegend Russlands stammt.«
    Mehr brauchte ich nicht zu sagen. Alle wirbelten durcheinander. Jemand hatte mir einen Becher Wein in die Hand gedrückt. Ich sog den süßen Duft ein und setzte ihn auf dem Tisch ab. Rosenblätter schienen auf mich niederzuregnen. Und tatsächlich roch es hier überall nach blumigem Parfüm. Man brachte mir einen Stuhl. Ich blieb stehen.
    Unversehens kam

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