Chronik der Vampire 08 - Blut und Gold
deine Mutter. Ja, ganz bestimmt. Sie hat dich vorhin doch erkannt, und da ist sie nun.« Ich zeigte auf die kleine Gestalt, die sich, ein Bündel im Arm, näherte.
»Andrei«, sagte sie, als sie an uns herantrat, »hier, dein letztes Bild. Andrei, ich wusste, du warst es. Wer sonst hätte uns besuchen sollen? Andrei, dies ist die Ikone, die dein Vater an dem Tag mit heimbrachte, als du uns genommen wurdest.« Warum nahm er das Bild nicht an?
»Du musst sie behalten, Mutter«, sagte er angesichts dieser Ikone, die so fest mit seinem Schicksal verknüpft war, wie er behauptet hatte. Er weinte. »Behalt sie, bewahr sie für meine kleinen Geschwister. Ich nehme sie nicht an.«
Sie nahm das geduldig hin. Und dann vertraute sie ihm ein anderes Geschenk an, ein mit verschlungenen Mustern bemaltes Ei – ein kostbarer Brauch in Kiew, der den Menschen, die ihn pflegten, viel bedeutete.
Sanft nahm er es entgegen, und dann umarmte er sie und versicherte ihr in leidenschaftlichem Flüsterton, dass er nicht durch böse Taten zu seinem Reichtum gekommen war und dass er sie möglicherweise wieder einmal besuchen könnte. Ach, so schöne Lügen!
Aber ich sah, dass die Frau ihm nicht wichtig war, obwohl er sie liebte. Ja, er gab ihr Gold, aber das hatte nichts zu bedeuten. Doch der Mann, der war wichtig gewesen, wichtig wie die Mönche. Der Mann hatte diese starken Gefühle in ihm ausgelöst. Der hatte ihm kühne Worte abgerungen.
Ich war ziemlich verblüfft von den Vorgängen. Aber ging es Amadeo nicht genauso? Er hatte, wie auch ich, geglaubt, der Mann wäre tot. Aber als er sah, dass er lebte, da zeigte sich bei ihm diese zwanghafte Besessenheit – der Vater hatte mit den Mönchen um nichts anderes als Amadeos Seele gekämpft. Und während wir auf dem Weg zurück nach Venedig waren, wurde mir klar, dass Amadeo seinen Vater tiefer liebte, als er mich je geliebt hatte.
Wir sprachen nicht darüber. Aber ich wusste, dass diese Vaterfigur die Herrschaft über Amadeos Herz besaß. Dieser kraftvolle, bärtige Mann, der in dem Kloster so energisch um Amadeos Leben gekämpft hatte, herrschte über alle Konflikte, vor die Amadeo sich je gestellt sähe. Wie besessen er davon war, hatte ich in der Schenke dort am Fluss innerhalb weniger Augenblicke mit eigenen Augen gesehen. Ich konnte es nicht verkennen. Vor dieser Reise nach Russland hatte ich immer gedacht, dass diese Zerrissenheit in Amadeos Seele durch die so unterschiedlichen Kunststile Venedigs und Russlands hervorgerufen wurde – hier die farbenfreudige, üppige Vielfalt, dort die stilisierte, strenge Linienführung. Aber jetzt wusste ich es besser. Es ging um das Kloster einerseits, mit seinen Ikonen und seinem Büßertum, und seinen Vater, den bärenstarken Jäger, andererseits, der ihn an jenem schicksalhaften Tag aus den Fängen des Klosters gezerrt hatte. Nie wieder sprach Amadeo von seinem Vater oder seiner Mutter. Nie wieder erwähnte er Kiew. Das wunderhübsche bemalte Ei verwahrte er in seinem Sarkophag, ohne mir je die Bedeutung zu erklären.
Und in manchen Nächten, wenn ich in meinem Studio wild-verbissen vor mich hin malte, kam er, um mir Gesellschaft zu leisten, und dann hatte ich den Eindruck, als betrachte er mein Werk nun mit anderen Augen.
Würde er schließlich doch noch zum Pinsel greifen? Ich wusste es nicht, aber diese Frage war auch nicht mehr wichtig. Er gehörte mir, für immer. Er konnte tun, wozu er Lust hatte. Und doch spürte ich ganz tief in mir, dass Amadeo mich verachtete. Alles, was ich ihn über Kunst, Geschichte, Schönheit, Kultur lehrte – all das bedeutete ihm nichts.
Als die Tataren ihn gefangen nahmen, als die Ikone aus seinen Händen ins Gras fiel, war nicht sein Schicksal besiegelt – nein, in dem Moment waren sein Geist, seine Seele für immer verschlossen.
Ja, ich konnte ihn in Samt und Seide kleiden und ihn mehrere Sprachen lernen lassen, er konnte Bianca lieben und mit ihr die elegantesten Tanzschritte zum feierlichen Takt der Musik vollführen, er konnte lernen, philosophische Gespräche zu führen und Gedichte zu schreiben. Aber seiner Seele war nichts heilig als jene alte Kunstform und jener Mann da unten am Dnjepr, der seine Tage und Nächte mit Trinken verbrachte. Und ich konnte in Amadeos Seele nicht den Platz seines Vaters einnehmen, weder mit meinen dunklen Künsten noch mit all meinen Schmeichelworten. Warum war ich so eifersüchtig? Warum versetzte mir dieses Wissen so heftige Stiche? Ich liebte Amadeo, wie ich
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