Chronik der Vampire 08 - Blut und Gold
Ich war immer in seiner Nähe, aber es stand mir nicht an, mich einzumischen oder ihm Vorschriften zu machen. Ehrlich gesagt war ich entsetzt, denn was ich von diesem Ort in seinem fiebrigen Geist gesehen hatte, hatte mir keine Vorstellung davon gegeben, wie schlimm es in Wirklichkeit war. Mit stummem Jammer betrachtete er den Raum voller Tische und Farbtöpfe, in dem er einst die Ikonen gemalt hatte. Er sah die langen Lehmgänge, durch die er als junger Mönch geschritten war, um den lebendig Begrabenen Nahrung und Wasser zu reichen. Als er endlich zitternd daraus hervorkam, klammerte er sich an mich und flüsterte: »Ich wäre in einer solchen Lehmhöhle zu Grunde gegangen.« Sein Blick bat mich zu verstehen, was das für ihn bedeutete. Sein Gesicht war von Schmerz verzerrt. Dann wandte er sich hastig ab und ging zu dem halb zugefrorenem Fluss hinab, auf der Suche nach dem Haus, in dem er geboren worden war. Er fand es mühelos und trat ein – der prächtig gekleidete Venezianer, der die drinnen beisammen sitzende Familie blendete und verwirrte. Auch hier hielt ich mich fern, begnügte mich mit der Stille und dem Wind und den Stimmen, die mein übernatürliches Gehör auffing.
In kürzester Zeit hatte er ihnen ein Vermögen an Goldmünzen aufgedrängt und kam wieder hinaus in den fallenden Schnee. Ich wollte tröstend seinen Arm fassen, aber er wandte sich ab, wollte mich nicht anschauen. Irgendetwas schien ihn zwanghaft zu beschäftigen.
»Meine Mutter war dort«, flüsterte er, den Blick auf den Fluss gerichtet. »Sie hat mich nicht erkannt. Gut so. Ich gab ihnen, was ich hatte.«
Wieder wollte ich ihn umarmen, aber er schüttelte mich ab.
»Was ist denn?«, fragte ich. »Was ist da unten am Fluss? Was hast du vor?«
Wie sehr ich mir wünschte, seine Gedanken lesen zu können! Aber sein Geist, seiner allein, war mir verschlossen! Und wie zornig und entschlossen er dreinschaute! »Mein Vater wurde damals in der Steppe nicht getötet«, sagte er mit bebender Stimme. Der Wind peitschte ihm das rötliche Haar. »Mein Vater lebt noch. Er ist in der Schenke da unten.«
»Du willst ihn sehen?«
»Ich muss ihn sehen. Er soll unbedingt wissen, dass ich noch lebe! Hast du nicht gelauscht, als sie mit mir sprachen?«
»Nein«, gab ich zu. »Ich wollte, dass du sie ganz für dich hast. War das falsch?«
»Sie sagten, er ist dem Trunk verfallen. Er ist zum Säufer geworden, weil er seinen Sohn nicht retten konnte!« Er schaute mich so wütend an, als hätte ich ihm ein fürchterliches Unrecht angetan. »Mein Vater Ivan, der tapfere Ivan, der Jäger. Ivan, der Krieger, der Balladensänger, den jeder so gern hatte – er ist nun Ivan, der Säufer, weil er seinen Sohn nicht retten konnte.«
»Beruhige dich. Wir gehen zu der Schenke. Dann kannst du ihm auf deine Art sagen…«
Er machte eine abwehrende Bewegung, als wäre ich ihm lästig, und trottete langsam wie ein Sterblicher den Weg hinab. Wir betraten die Schenke gemeinsam. Drinnen war es düster und roch nach brennendem Öl. Fischer, Händler, Gesindel, alle saßen dort und tranken. Sie gafften uns einen Augenblick an und taten dann, als wären wir nicht da, aber Amadeo entdeckte sofort im Hintergrund des Schankraumes einen Mann, der lang hingestreckt auf einer Bank lag.
Auch hier dachte ich, ich sollte ihn besser bei dem, was er vorhatte, allein lassen, aber ich war in Sorge um ihn und lauschte deshalb, als er sich nun neben dem Schlafenden niedersetzte. Als ich den Mann näher betrachtete, erkannte ich ihn sofort als den, den ich in Amadeos Erinnerungen, in seinen Visionen gesehen hatte. Das rote Haar, der rote Bart waren unverkennbar. Amadeos Vater, der Jäger, der ihn an jenem Tag wegen des gefährlichen Auftrags aus dem Kloster geholt hatte, nach einer Festung zu suchen, die von den Tataren längst zerstört worden war. Ich zog mich in eine dämmerige Ecke zurück. Ich sah zu, wie dieser schimmernde Knabe einen Handschuh auszog und seine eisige, übernatürliche Hand auf die Stirn des Schlafenden legte. Ich sah, wie der bärtige Mann erwachte. Ich hörte sie sprechen.
In wirrer, trunkener Beichte stieß der Vater wieder und wieder sein Schuldgeständnis aus, als ob jeder, der ihn aufweckte, ein Recht darauf hätte.
Pfeil um Pfeil hatte er abgeschossen, war mit dem Schwert auf die wilden Barbaren losgegangen, alle anderen Mitstreiter hatte der Tod ereilt. Und sein Sohn – mein Amadeo – war entführt worden! Und er war jetzt Ivan, der Säufer, ja, er
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