Chronik der Vampire 08 - Blut und Gold
nennen, meine ich –, was hatten sie gemacht, als dann die Sonne aufging? Nichts. Der Älteste hatte versucht, sie so zum Erwachen oder zum Reden oder zur Flucht zu bewegen; sein einziger Dank dafür waren schwerste Verbrennungen. Er fand sie am Abend, wie er sie zuvor verlassen hatte, unbewegt und unbeweglich, und ungerührt, und da er, auch für sich selbst, nur noch mehr Pein befürchtete, hatte er sie wieder in ein dunkles Gelass zurückgebracht, das kaum etwas anderes als eine elende unterirdische Gefängniszelle war.«
Marius hielt inne. Sein Schweigen dauerte so lange an, dass es schien, als sei die Erinnerung für ihn zu schmerzlich. Er schaute nach Menschenart in die Flammen, die ihren stetigen Tanz vollführten.
»Bitte erzähl weiter«, bat Thorne. »Diese Königin, du fandest sie damals, vor so langer Zeit, du sahst sie mit deinen eigenen Augen?«
»Ja, ich fand sie«, sagte Marius leise. Seine Stimme klang ernst, aber nicht bitter. »Ich wurde ihr Hüter. ›Bring uns fort aus Ägypten, Marius‹, sagte sie zu mir, die Königin, ohne ihre Lippen zu bewegen, mit der Gabe des Geistes sprach sie. Und ich nahm sie und ihren Geliebten Enkil mit mir und gab ihnen zweitausend Jahre lang Schutz und Obdach, während sie unbewegt und stumm wie Statuen waren.
Ich hielt sie in einem heiligen Schrein verborgen. Sie waren mein Leben, ich hatte mich ihnen feierlich verschrieben. Ich pflegte ihre Kleider. Ich wischte den Staub von ihren starren Gesichtern. Ich hielt das alles für meine heilige Verpflichtung, und die ganze Zeit hütete ich das Geheimnis, damit streunende Bluttrinker nicht auf die Idee kommen konnten, von ihrem machtvollen Blut zu trinken oder die beiden gar gefangen zu nehmen.« Seine Augen blieben auf das Feuer geheftet, aber seine Halsmuskeln spannten sich, und die Adern an seinen sonst so glatten Schläfen wurden eine Sekunde lang für Thorne sichtbar.
»Und die ganze Zeit über«, fuhr Marius fort, »liebte ich sie, diese scheinbar so Göttliche, die du so richtig unsere Böse Königin nennst. Ich liebte sie; das war vielleicht die größte Lüge meines Lebens.«
»Wie hättest du ein solches Wesen nicht lieben können?«, fragte Thorne. »Selbst in meinem Schlaf noch sah ich ihr Gesicht. Ich spürte ihr Geheimnis. Die Böse Königin. Ich spürte ihren Zauber. Als sie zum Leben erwachte, muss es dir vorgekommen sein, als wäre ein Fluch von ihr genommen und sie wäre endlich erlöst.« Diese Worte schienen eine heftige Wirkung auf Marius zu haben. Er musterte Thorne ein wenig kühl, dann schaute er wieder ins Feuer.
»Wenn ich etwas Falsches gesagt habe, tut es mir Leid«, sagte Thorne. »Ich habe nur versucht, dich zu verstehen.«
»Ja, sie war wie eine Göttin«, ergriff Marius erneut das Wort. »Das dachte ich, und das träumte ich, wenn ich auch mir selbst und anderen etwas anderes sagte. Das war ein Teil der großen Lügen.«
»Müssen wir denn, was wir lieben, jedermann offenbaren?«, fragte Thorne sanft. »Können wir nicht ein paar Geheimnisse für uns behalten?«
Mit überwältigendem Schmerz dachte er an die, die ihm Das Blut gegeben hatte. Er gab sich gar keine Mühe, diese Gedanken zu verbergen. Wieder sah er sie in der Höhle vor dem lodernden Feuer sitzen. Er sah sie, wie sie sich einzelne Haare ausriss und sie mit Rocken und Spindel in dem Faden verwob. Er sah ihre blutgeränderten Augen, aber dann löste er sich abrupt von diesen Erinnerungen. Er versenkte sie tief in seinem Herzen und blickte zu Marius. Marius hatte auf seine Frage nicht geantwortet. Sein Schweigen beunruhigte Thorne. Er hatte das Gefühl, dass er selbst schweigen und Marius weitererzählen lassen sollte. Und doch drängte sich ihm die Frage über die Lippen. »Wie konnte dieses Unheil geschehen?«, wollte er wissen. »Warum erhob sich die Böse Königin von ihrem Thron? War es der Vampir Lestat mit seinen elektrischen Liedern, der sie erweckte? Ich sah ihn – als Mensch kostümiert, als wäre er einer von ihnen. Ich lächelte in meinem Schlaf, als ich sah, wie die neuzeitliche Welt ihn an ihre Brust nahm und ungläubig und amüsiert nach seinem Takt tanzte.«
»Das genau geschah, mein Freund«, sagte Markts, »zumindest mit der neuzeitlichen Welt. Und sie? Dass sie sich von ihrem Thron erhob? Seine Lieder hatten eine Menge damit zu tun. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass sie Tausende von Jahren in Schweigen zugebracht hatte. Blumen und Weihrauch, ja, diese Dinge gab ich ihr im Überfluss, aber
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