Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
Kolonisten entschlossen schien, die Verordnungen des ›Zuckergesetzes‹ zu umgehen, die den Handelsverkehr behinderten. Schmuggel und Korruption waren in der Bucht von Narragansett nichts Ungewöhnliches, ebenso die nächtlichen Verladungen von illegalen Frachten.
Weeden jedoch, der jede Nacht den Schiffen oder kleinen Schaluppen folgte, die sich von Curwens Lagerhallen in den Docks der Town Street davonstahlen, war sich bald sicher, dass es nicht bloß die bewaffneten Schiffe Seiner Majestät waren, denen der finstere Kaufmann nicht begegnen wollte. Vor Curwens Veränderung im Jahre 1766 hatten man mit diesen Booten meist angekettete Neger über die Bucht transportiert und sie an einer dunklen Stelle an der Küste nördlich von Pawtuxet ans Ufer gebracht – anschließend waren sie das Steilufer hinauf und übers Land zu Curwens Farm getrieben worden, wo man sie in das gewaltige Nebengebäude aus Stein einsperrte, dessen einzige Fenster aus hohen, schmalen Schlitzen bestanden.
Nun jedoch änderte sich dieses Vorgehen. Der Import von Sklaven hörte abrupt auf, und eine Weile gab Curwen seine mitternächtlichen Bootsfahrten auf. Dann, ungefähr im Frühjahr 1767, zeichnete sich eine neue Vorgehensweise ab. Wieder wurde es den Booten zur Gewohnheit, von schwarzen, stillen Docks abzulegen, und nun fuhren sie eine gewisse Strecke durch die Bucht, vielleicht bis auf die Höhe von Nanquit Point, wo sie von fremden, beachtlich großen Schiffen mit unterschiedlichem Aussehen Frachten empfingen. Curwens Matrosen löschten diese Ladung an der üblichen Stelle an der Küste und transportierten sie über Land bis zur Farm, wo sie im selben rätselhaften Steinbau verstaut wurden wie früher die Neger. Die Fracht bestand meist aus Kisten und Truhen, von denen ein Großteil länglich und schwer war und verstörend an Särge erinnerte.
Weeden beobachtete die Farm unablässig. Lange Zeit kehrte er beharrlich jede Nacht zurück und selten verstrich eine Woche, in der er keine Wacht hielt, es sei denn, auf dem Boden lag eine Schneeschicht, die seine Spuren verraten konnte. Doch selbst dann schlich er auf der Straße oder über das Eis des angrenzenden Flusses so nahe wie möglich heran, um zu prüfen, ob sich wohl Spuren von anderen finden ließen. Da seine Wachen von seinen nautischen Pflichten unterbrochen wurden, heuerte er einen Zechkumpan namens Eleazar Smith an, um die Wache während seiner Abwesenheit fortzuführen.
Die beiden hätten einige ganz außergewöhnliche Gerüchte in Umlauf bringen können. Dass sie das nicht taten, lag nur daran, dass sie wussten, dass solches Gerede ihr Opfer nur gewarnt und weitere Fortschritte verhindert hätte. Sie wollten lieber etwas Handfestes in Erfahrung bringen, ehe sie etwas unternahmen. Was sie in Erfahrung brachten, muss dann tatsächlich überwältigend gewesen sein. Charles Ward sagte mehrmals zu seinen Eltern, wie sehr er es bedauere, dass Weeden später seine Notizbücher verbrannte. Von ihren Entdeckungen ist nur bekannt, was Eleazar Smith in seinem lückenhaften Tagebuch festhielt und was andere Tagebuch- und Briefschreiber zögerlich aus den Aussagen der beiden jungen Männer zitierten. Demzufolge war die Farm nur die äußere Tarnung einer gewaltigen, schauderhaften Bedrohung – eine so profunde und abstrakte Bedrohung, dass man sie nur schattenhaft begreifen konnte.
Offenbar gelangten Weeden und Smith schon früh zu der Überzeugung, dass sich unter dem Gebäude ein fächerartiges Netz von Tunneln und Katakomben ausbreitete, in dem beträchtlich mehr Dienstboten als nur der alte Indianer und seine Frau wohnen mussten. Das Haus war ein altes spindeldürres Überbleibsel aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, mit einem enormen Schornstein und rautenförmigen Gitterfenstern. Das Laboratorium befand sich in einem nördlichen Anbau, wo das heruntergezogene Dach beinahe den Boden berührte. Dieses Gebäude stand alleine und abseits, doch da zu unüblichen Zeiten unterschiedliche Stimmen darin gehört wurden, musste es über geheime Passagen zugänglich sein.
Vor 1766 vernahm man nur das Gemurmel und Flüstern der Neger, aber auch irrsinnige Schreie, gepaart mit befremdlichen Gesängen oder Bittgebeten. Nach dieser Zeit allerdings wurden die Stimmen viel schrecklicher: Das Spektrum reichte von dumpf dröhnender Ergebung bis zu hysterischen Ausbrüchen voller Zorn oder Schmerz, von grollendem Sprechen bis zu winselndem Flehen, von erregtem Hecheln bis hin zu Protestschreien. All
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