Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
interessierte ihn besonders, da er viel darum gegeben hätte zu wissen, wie Joseph Curwen ausgesehen hatte. Deshalb entschied er, das Haus in Olney Court ein zweites Mal abzusuchen – eventuell entdeckte er unter der abblätternden Schicht späterer Übermalung oder unter den modrigen Tapeten noch irgendeine Spur der alten Gestaltung.
Diese Durchsuchung fand Anfang August statt. Ward prüfte die Wände jedes Raumes, der groß genug war, um einst die Bibliothek des boshaften Erbauers beherbergt zu haben. Besondere Aufmerksamkeit widmete er den großen Paneelen des noch vorhandenen Kaminmantels. Nach etwas mehr als einer Stunde überkam ihn eine starke Erregung, als er in einem großen Zimmer im Erdgeschoss auf einer breiten Wand an einer Stelle über dem Kamin bemerkte, dass der Untergrund, der nach dem Abkratzen mehrerer Farbschichten zutage trat, sichtlich dunkler war als eine gewohnte Innenfarbe. Nach einigen weiteren vorsichtigen Versuchen mit einem dünnen Messer wusste er, dass er auf ein Ölporträt von beträchtlichen Ausmaßen gestoßen war.
Mit kundiger Zurückhaltung riskierte der junge Mann keinen möglicherweise schädigenden Versuch, das verborgene Bild eilig mit dem Messer freizulegen, sondern verließ die Fundstelle, um sich die Hilfe eines Fachmanns zu sichern. Drei Tage später kehrte er mit einem erfahrenen Künstler namens Mr. Walter Dwight zurück, dessen Atelier sich am Fuße des College Hill befindet, und dieser fähige Gemälderestaurator machte sich sofort mit den angemessenen Methoden und chemischen Hilfsmitteln an die Arbeit. Der alte Asa und seine Frau waren wegen ihrer merkwürdigen Besucher ganz aufgeregt und wurden für die Störung ihrer häuslichen Ruhe angemessen entschädigt.
Tag für Tag machte das Werk des Restaurators Fortschritte, und Charles Ward betrachtete mit wachsendem Interesse die Linien und Schattierungen, die sich nach der langen Vergessenheit allmählich entschleierten. Dwight begann am unteren Ende, und da es sich bei dem Gemälde um ein hochgestelltes Rechteck handelte, dauerte es eine Weile, bis er zum Gesicht kam. Währenddessen erkannte man aber schon, dass der Porträtierte ein schlanker, gut gebauter Mann in dunkelblauem Anzug, mit Brokatweste, schwarzen Kniehosen aus Satin und weißen Seidenstrümpfen gewesen war. Er saß auf einem mit Schnitzereien verzierten Sessel vor einem Fenster, durch das man auf Anlegestellen und Schiffe blickte. Als der Kopf mehr und mehr zum Vorschein kam, sah man, dass er eine anmutige Albemarle-Perücke trug und ein schmales, ruhiges, unauffälliges Gesicht hatte, das sowohl dem Künstler als auch Ward irgendwie bekannt vorkam. Erst gegen Ende der Arbeiten hielten der Restaurator und sein Auftraggeber den Atem vor Erstaunen an, als sie die Einzelheiten des mageren, fahlen Antlitzes ganz erfassten und verwundert den dramatischen Trick sahen, den die Vererbung gespielt hatte. Es bedurfte eines letzten Ölbades und eines letzten Anwendens des feinen Schabers, um den Ausdruck ganz ans Licht zu bringen, den Jahrhunderte verborgen hatten – und der verblüffte Charles Dexter Ward, der in der Vergangenheit lebte, wurde auf dem Abbild seines schrecklichen Urururgroßvaters mit seinen eigenen Gesichtszügen konfrontiert.
Ward holte seine Eltern, um ihnen das Wunder zu zeigen, das er entdeckt hatte. Sein Vater beschloss unverzüglich, das Bild zu kaufen, auch wenn es auf einer zur Wandvertäfelung gehörenden Platte ausgeführt war. Obwohl der Abgebildete viel älter war, blieb die Ähnlichkeit zu dem jungen Mann überwältigend; es war offenkundig, dass die körperlichen Züge von Joseph Curwen durch einen sonderbaren Atavismus nach anderthalb Jahrhunderten ein genaues Ebenbild gefunden hatten.
Mrs. Ward wies hingegen keine ausgeprägte Ähnlichkeit zu ihrem Vorfahren auf, obwohl sie sich an Verwandte erinnern konnte, die ähnliche Gesichtszüge aufgewiesen hatten wie ihr Sohn und Curwen. Die Entdeckung behagte ihr ganz und gar nicht, und sie bat ihren Gatten, er möge das Bild doch lieber verbrennen, anstatt es nach Hause zu bringen. Sie schwor, dem Bild hafte etwas Unheimliches an. Nicht nur dem Bild an sich, sondern auch dessen große Ähnlichkeit mit Charles.
Mr. Ward jedoch war ein praktisch veranlagter Mensch und ein einflussreicher Geschäftsmann – Baumwollfabrikant, dem zahllose Mühlen in Riverpoint im Tal von Pawtuxet gehörten –, und nicht geneigt, auf weibliche Bedenken zu hören. Das Bild machte gerade wegen der
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