Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
Erstaunen gesorgt; allein schon das benutzte Alphabet war, abgesehen von einer oberflächlichen Ähnlichkeit mit dem im Zweistromland gebräuchlichen unreinen Arabisch, keiner der Autoritäten auf diesem Gebiet bekannt. Die Schlussfolgerung der Linguisten lautete, dass der Text in einem künstlichen Alphabet geschrieben, also in einer Geheimschrift abgefasst worden war; keine der üblichen Entschlüsselungsmethoden war erfolgreich, nicht einmal, wenn man sie auf der Grundlage jeder Sprache anwandte, die der Verfasser hätte benutzen können. Die alten Bücher aus Whateleys Besitz waren zwar über alle Maßen interessant und schienen in mehreren Fällen neue und schreckliche Anstöße für die Forschung der Philosophen und Wissenschaftler zu versprechen, in dieser Angelegenheit boten sie allerdings keinerlei Hilfe. Eines der Bücher, ein schwerer Band mit eiserner Schließe, war in einem weiteren unbekannten Alphabet verfasst, das allerdings von ganz anderer Art war als das im Manuskript verwendete; es ähnelte am ehesten dem Sanskrit. Das Tagebuch wurde schließlich Dr. Armitage anvertraut, nicht nur wegen seines besonderen Interesses an dem Fall Whateley, sondern auch wegen seines umfassenden linguistischen Wissens und seiner Fähigkeiten auf dem Gebiet der mystischen Formeln des Altertums und des Mittelalters.
Armitage vertrat die Ansicht, dass dieses Alphabet dazu diente, esoterisches Wissen zu vermitteln; genutzt wurde es von gewissen verbotenen Kulten, deren Ursprünge tief in die Vergangenheit zurückreichten und die viele Methoden und Überlieferungen von den Hexenmeistern der sarazenischen Welt übernommen hatten. Doch er hielt das Wissen um die Herkunft der Symbole für unwesentlich, da diese vermutlich zur Chiffrierung einer modernen Sprache verwendet worden waren. Er nahm an, dass Whateley angesichts des umfangreichen Textes sich wohl kaum die Mühe gemacht hätte, eine andere Sprache als seine eigene zu benutzen, ausgenommen vielleicht bei gewissen besonderen Formeln und Anrufungen. Demgemäß nahm er sich das Manuskript unter der Voraussetzung vor, dass ein Großteil davon in Englisch verfasst sein musste.
Da seine Kollegen mehrfach daran gescheitert waren, war sich Dr. Armitage bewusst, dass er es hier mit einem tiefgründigen und komplexen Rätsel zu tun hatte und dass kein simpler Lösungsweg auch nur den Versuch lohnen würde. Die ganze zweite Augusthälfte hindurch bereitete er sich mittels zahlreicher kryptografischer Fachbücher vor, schöpfte aus den tiefsten Quellen seiner eigenen Bibliothek und watete Nacht für Nacht durch die Geheimnisse der Poligraphia des Trithemius, durch Giambattista Portas De Furtivis Literarum Notis, De Vigeneres Traite des Chiffres, Falconers Cryptomenysis Patefacta, die Abhandlungen von Davys und Thickness aus dem 18. Jahrhundert und die Schriften eher zeitgenössischer Autoritäten wie Blair, von Marten und Klüber. Bald gelangte er zu der Überzeugung, dass es sich hier um eine jener überaus subtilen und raffinierten Geheimschriften handelte, in denen zahlreiche Kolonnen einander entsprechender Buchstaben wie in einer Multiplikationstabelle angeordnet sind und deren Botschaft sich nur dem Eingeweihten erschließt, der Kenntnis von den willkürlich gewählten Schlüsselworten hat. Die älteren Werke schienen hilfreicher zu sein als die neueren Datums, und Armitage zog daraus den Schluss, dass es sich bei dem Code des Manuskriptes um eine Geheimschrift hohen Alters handeln musste, die ohne Zweifel über mehrere Generationen experimentierfreudiger Mystiker weitergereicht worden war. Mehrere Male schien er fast am Ziel zu sein, nur um von einem unvorhergesehenen Hindernis zurückgeworfen zu werden. Anfang September lichtete sich der Nebel langsam. Gewisse Buchstaben traten an bestimmten Stellen des Manuskriptes klar und unmissverständlich hervor, und es zeigte sich, dass der Text tatsächlich in Englisch verfasst war.
Am Abend des 2. September nahm Dr. Armitage die letzte größere Hürde und las zum ersten Male einen zusammenhängenden Abschnitt aus den Aufzeichnungen Wilbur Whateleys. Es handelte sich tatsächlich um ein Tagebuch, wie alle es vermutet hatten, und es war in einem Stil abgefasst, der deutlich die okkulte Belesenheit und allgemeine Unwissenheit des sonderbaren Wesens zeigte, das sein Verfasser war. Schon die erste längere Passage, die Armitage entziffern konnte, ein Eintrag vom 26. November 1916, erwies sich als höchst verwirrend und verstörend.
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