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Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)

Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)

Titel: Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. P. Lovecraft
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stieß, das von dem volltrunkenen Blandot unterhalten wurde. Es war vom oberen Ende aus gesehen das dritte Haus der Straße und mit Abstand das größte von allen.
    Mein Zimmer befand sich in der fünften Etage und war in diesem Stockwerk der einzig bewohnte Raum, denn das Haus stand so gut wie leer. In der Nacht, in der ich einzog, hörte ich eine sonderbare Musik aus der Mansarde über mir, und am nächsten Tag erkundigte ich mich deswegen bei dem alten Blandot. Er erzählte mir, die Musik stamme von einem alten deutschen Violinenspieler, einem merkwürdigen stummen Mann, der mit dem Namen Erich Zann unterschrieb und des Abends in einem billigen Theaterorchester geigte; er fügte hinzu, dass Zanns Wunsch, nachts nach seiner Rückkehr aus dem Theater zu spielen, der Grund dafür sei, dass er dieses hoch gelegene und abgeschiedene Mansardenzimmer für sich gewählt habe, dessen Giebelfenster die einzige Stelle in der Straße sei, von der aus man über die Mauer hinweg auf den Abhang und das Panorama dahinter blicken könne.
    So hörte ich dann Zann jede Nacht, und obwohl er mich damit wachhielt, war ich von der Unheimlichkeit seiner Musik fasziniert. Ich wusste von dieser Kunst nur wenig und war mir dennoch sicher, dass keine seiner Harmonien mit irgendeiner Art Musik verwandt war, die ich zuvor gehört hatte; ich gelangte zu dem Schluss, er sei ein Komponist von höchsteigenem Genie. Je länger ich ihm lauschte, desto größer wurde meine Faszination, bis ich mich nach einer Woche entschloss, die Bekanntschaft des alten Mannes zu machen.
    Eines Nachts, als er gerade von seiner Arbeit heimkehrte, hielt ich Zann im Korridor auf und sagte ihm, ich würde ihn gern kennenlernen und ihm Gesellschaft leisten, wenn er spielte. Er war ein kleiner, magerer, vornübergebeugter Mann in schäbiger Kleidung; er hatte blaue Augen, ein groteskes Satyrgesicht und einen fast kahlen Kopf. Zunächst schienen ihn meine Worte sowohl zu erzürnen als auch zu ängstigen, aber meine offensichtliche Freundlichkeit brachte das Eis schließlich zum Schmelzen, und er bedeutete mir verdrießlich, ihm die dunkle, knarrende und wacklige Dachtreppe hinauf zu folgen. Sein Zimmer, eins von nur zweien in der hochgiebeligen Dachstube, befand sich an der Westseite und lag somit der hohen Mauer gegenüber, die das obere Ende der Straße bildete. Der Raum war sehr groß und erschien umso größer durch seine außergewöhnliche Kahlheit und Verwahrlosung. An Mobiliar gab es nur ein schmales eisernes Bett, einen schäbigen Wäscheständer, einen kleinen Tisch, ein großes Bücherregal, einen eisernen Notenständer und drei altmodische Stühle. Notenblätter stapelten sich ungeordnet auf dem Boden. Die Wände bestanden aus nackten Brettern, die wahrscheinlich nie einen Verputz gesehen hatten, während das Übermaß an Staub und Spinnweben den Raum eher verlassen als bewohnt erscheinen ließ. Offensichtlich lag Erich Zanns Welt der Schönheit in einem entlegenen Kosmos der Fantasie.
    Der stumme Mann wies mir einen Platz an, schloss die Tür, legte den großen hölzernen Riegel vor und entzündete eine Kerze. Nun entnahm er seine Violine der mottenzerfressenen Schutzhülle und ließ sich damit auf dem unbequemsten der drei Stühle nieder. Er machte keine Verwendung von dem Notenständer, fragte mich auch nicht nach meinen Wünschen, sondern spielte aus dem Gedächtnis, wobei er mich über eine Stunde lang mit Weisen bezauberte, die ich nie zuvor vernommen hatte; Melodien, die er selbst ersonnen haben musste. Ihr genaues Wesen zu beschreiben ist unmöglich für jemanden, der in der Musik unbewandert ist. Sie bildeten eine Art Fuge mit wiederkehrenden Themen der ergreifendsten Art, doch mir fiel auf, dass jene unheimlichen Klänge fehlten, die ich bei anderen Gelegenheiten in meinem Zimmer gehört hatte.
    Diese quälenden Melodien waren mir im Gedächtnis geblieben, und ich hatte sie oftmals ungenau vor mich hingesummt und -gepfiffen, und als der Musiker schließlich seinen Bogen niederlegte, fragte ich ihn, ob er mir nicht etwas davon vorspielen möge. Als ich meine Bitte vorbrachte, verlor das satyrähnliche Gesicht die gelangweilte Gelassenheit, die es während des Spiels gezeigt hatte, und schien wieder derselben merkwürdige Mischung von Zorn und Angst Platz zu machen, die mir aufgefallen war, als ich den alten Mann eingangs angesprochen hatte. Einen Augenblick lang dachte ich daran, meine Überredungskünste zu gebrauchen, da ich die Launen des Alters auf

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