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Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)

Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)

Titel: Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. P. Lovecraft
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die leichte Schulter nahm; ich versuchte sogar, die unheimliche Stimmung meines Gastgebers dadurch wiederzuerwecken, indem ich ein paar der Melodien pfiff, denen ich in der Nacht zuvor gelauscht hatte. Doch das ließ ich bald schon bleiben, denn als der stumme Musikant die Weisen erkannte, verzerrte sich sein Gesicht plötzlich auf unbeschreibliche Weise, und seine lange, kalte, knochige Rechte streckte sich mir entgegen, um mir Einhalt zu gebieten und die krude Nachahmung verstummen zu lassen. Gleichzeitig stellte er seine Verschrobenheit unter Beweis, indem er verwirrt auf das verhangene Fenster blickte, als fürchtete er einen Eindringling – ein doppelt absurdes Vorgehen, ragte die Dachstube doch hoch und unzugänglich über alle anliegenden Dächer hinaus und war, wie der Concierge mir erzählt hatte, die einzige Stelle in der Straße, von der aus man über die Mauer an ihrem Ende spähen konnte.
    Der Blick des Alten rief mir Blandots Bemerkung in Erinnerung, und mit einer gewissen Launenhaftigkeit verspürte ich den Wunsch, selbst einmal das weite und schwindelerregende Panorama mondbeschienener Dächer und städtischer Lichter jenseits der Hügelspitze zu sehen, das von allen Bewohnern der Rue d’Auseil einzig dieser halsstarrige Musiker betrachten konnte. Ich trat auf das Fenster zu und wollte den unbeschreiblichen Vorhang gerade wegziehen, als Zann mich mit noch größerer Verärgerung als zuvor handgreiflich davon abhielt; er deutete mit dem Kopf zur Türe, während er hektisch versuchte, mich mit beiden Händen dorthin zu zerren. Nun hatte ich endgültig genug von meinem Gastgeber, befahl ihm, mich loszulassen, und sagte, ich würde unverzüglich gehen. Seine Umklammerung lockerte sich, und als er meine Abscheu und Kränkung sah, schien sein Zorn nachzulassen. Er verstärkte seinen Griff wieder, doch dieses Mal auf freundliche Weise, um mich auf einen Stuhl zu drängen; dann schritt er mit einem wehmütigen Ausdruck zu dem unaufgeräumten Tisch, wo er mit einem Bleistift viele Worte in dem umständlichen Französisch, wie es Ausländer verwenden, auf ein Blatt Papier schrieb.
    Die Mitteilung, die er mir schließlich überreichte, war eine Bitte um Nachsicht und Vergebung. Zann schrieb, er sei alt, einsam und leide unter seltsamen Ängsten und nervlichen Anspannungen, die mit seiner Musik und anderen Dingen in Zusammenhang stünden. Er habe es genossen, mir vorzuspielen, und wünsche, ich würde wiederkommen und mich an seinen Verschrobenheiten nicht stören. Doch vor einem anderen könne er seine unheimlichen Harmonien nicht spielen und könne es auch nicht ertragen, sie von einem andern zu hören; ebenso würde er nicht dulden, dass irgendjemand in seinem Zimmer etwas anfasse. Er habe bis zu unserem Gespräch im Korridor nicht gewusst, dass ich in meinem Zimmer seiner Musik lauschen könne, und bat mich nun darum, mit Blandot Vorkehrungen zu treffen, ein weiter unten gelegenes Zimmer zu nehmen, wo ich ihn des Nachts nicht würde hören können. Er würde, so schrieb er, für die Differenz in der Miete aufkommen.
    Während ich dasaß und das scheußliche Französisch entzifferte, verspürte ich mehr Nachsicht gegenüber dem alten Mann. Er war Opfer eines körperlichen und nervlichen Leidens, so wie auch ich; und meine metaphysischen Studien hatten mich Güte gelehrt. In der Stille kam ein leises Geräusch vom Fenster – der Laden musste im Nachtwind geklappert haben, und aus irgendeinem Grunde erschrak ich fast ebenso heftig darüber wie Erich Zann. Als ich zu Ende gelesen hatte, schüttelte ich die Hand meines Gastgebers und verabschiedete mich als Freund.
    Am nächsten Tag gab Blandot mir ein kostspieligeres Zimmer in der dritten Etage zwischen der Unterkunft eines alten Geldverleihers und dem Raum eines ehrbaren Polsterers … In der vierten Etage wohnte niemand.
    Es dauerte nicht lange, bis ich bemerkte, dass Zann an meiner Gesellschaft nicht so viel lag, wie es den Anschein gehabt hatte, als er mich überredete, aus der fünften Etage auszuziehen. Er bat mich nicht um meinen Besuch, und wenn ich bei ihm war, erweckte er einen angespannten Eindruck und spielte teilnahmslos. Die Treffen fanden immer des Nachts statt – tagsüber schlief er und empfing niemanden. Meine Zuneigung zu ihm wuchs dadurch nicht gerade, obwohl das Dachzimmer und die sonderbare Musik eine eigentümliche Faszination auf mich auszuüben schienen. Ich verspürte ein merkwürdiges Verlangen, aus jenem Fenster zu blicken, über

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