Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
Zeiten hätten Auserwählte mit den ruhenden Alten in ihren Träumen gesprochen, doch dann sei etwas geschehen. Die große steinerne Stadt R’lyeh sei mit all ihren Monolithen und Grabmälern in den Wellen versunken; und die tiefen Wasser, erfüllt von dem einen uranfänglichen Geheimnis, welches nicht einmal Gedanken durchdringen könnten, hätten den geistigen Umgang abgeschnitten. Doch die Erinnerung stirbt nie, und die Hohepriester sagten, dass die Stadt wieder erscheinen werde, wenn die Sterne günstig stünden. Dann stiegen aus dem Erdboden die schwarzen Geister der Erde, modrig und schemenhaft und voller finstrer Andeutungen, die sie in den Höhlen unter dem vergessenen Meeresgrund aufgeschnappt hätten. Doch von ihnen wagte der alte Castro nicht zu sprechen. Er beendete hastig seinen Redefluss, und weder Überredungskunst noch List konnten ihm mehr darüber entlocken. Auch die Größe der Großen Alten weigerte er sich merkwürdigerweise zu benennen. Vom Kult selbst sagte er noch, er glaube, sein Zentrum liege inmitten der unzugänglichen Wüsten Arabiens, wo Irem, die Stadt der Säulen, verborgen und unberührt träume. Der Kult sei nicht mit dem Hexenkult Europas verbunden und sei unter dessen Mitgliedern so gut wie unbekannt. Kein Buch habe je davon gesprochen, obwohl der todlose Chinese sagte, es gäbe Doppeldeutigkeiten im Necronomicon des verrückten Arabers Abdul Alhazred, welche der Eingeweihte nach Belieben deuten könne, insbesondere den viel erwähnten Vers:
Es ist nicht tot, was ewig liegt,
Und in fremder Zeit wird selbst der Tod besiegt.
Legrasse, tief beeindruckt und nicht wenig verwirrt, hatte umsonst nach den geschichtlichen Ursprüngen des Kultes gefragt. Castro hatte allem Anschein nach die Wahrheit gesagt, als er geäußert hatte, er sei absolut geheim. Die Experten der Tulane-Universität konnten sich weder den Kult noch das Abbild erklären, und nun war der Detektiv zu den größten Autoritäten des Landes gekommen und bekam nichts anderes zu hören als die Grönlandgeschichte des Professor Webb.
Das fieberhafte Interesse, das Legrasses Bericht, bestärkt durch die Figur, bei der Versammlung erregt hatte, findet seinen Widerhall in der späteren Korrespondenz der Teilnehmer – in den offiziellen Mitteilungen der Gesellschaft wird die Sache allerdings nur knapp erwähnt.
Vorsicht ist die erste Sorge jener, die gelegentliche Scharlatanerie und Betrug gewöhnt sind. Legrasse überließ Professor Webb das Abbild für einige Zeit, doch nach dessen Tod erhielt er es zurück, und es verblieb in seinem Besitz, wo ich es vor Kurzem in Augenschein nahm. Es ist wahrlich ein entsetzliches Ding und eindeutig mit der Traumskulptur des jungen Wilcox verwandt.
Dass mein Onkel von der Geschichte des Bildhauers so aufgewühlt worden war, fand ich nun nicht verwunderlich – denn welche Gedanken müssen einem in den Sinn kommen, wenn man nach allem, was Legrasse über den Kult erfahren hatte, von einem hypersensiblen jungen Mann hört, der nicht nur die Abbildung und die genauen Hieroglyphen des im Sumpf gefundenen Bildwerks und des grönländischen Teufelsreliefs geträumt hatte, sondern der in seinen Träumen auch auf mindestens drei der Wörter der Formel gestoßen war, die gleichermaßen von den teufelsanbetenden Eskimos und den Mischlingen in Louisiana gemurmelt worden waren?
Es war mehr als natürlich, dass Professor Angell sogleich eine äußerst gründliche Untersuchung begann, wenngleich ich den jungen Wilcox verdächtigte, auf indirektem Wege von dem Kult gehört und eine Reihe von Träumen erfunden zu haben, um auf Kosten meines Onkels das Geheimnis noch interessanter zu machen. Die vom Professor gesammelten Traumberichte und Zeitungsausschnitte waren natürlich eine starke Untermauerung; doch mein rationalistischer Verstand und die Überspanntheit der ganzen Sache brachten mich zu der meiner Auffassung nach logischsten Schlussfolgerung. Nachdem ich also das Manuskript wieder und wieder gründlich studiert und die Aufzeichnungen theosophischer und anthropologischer Natur mit Legrasses Bericht über den Kult verglichen hatte, reiste ich nach Providence, um den Bildhauer aufzusuchen und ihn zur Rede zu stellen, weil er einen gelehrten alten Mann derart dreist getäuscht hatte.
Wilcox lebte noch immer allein im Fleur-de-Lys-Gebäude in der Thomas Street, einer scheußlichen viktorianischen Nachahmung der bretonischen Architektur des siebzehnten Jahrhunderts, die inmitten der hübschen
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