Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)
tatsächlich vor dem Kreuz zurückschreckt – wie erklärt der Atheist Lovecraft denn das?). Die magische Welt der alten Dorfhexe und der Katholizismus der europäischen (das heißt irischen, italienischen und polnischen) Einwanderer erscheinen als verschiedene Seiten eines Gesamtsystems, welches »eigentlich« in Neuengland nichts verloren hat. Lovecraft ist hier ganz »White Anglo-Saxon Protestant«.
Trotz solcher Misslichkeiten besitzt ›The Dreams in the Witch House‹ eine fiebrige Intensität, die die Geschichte unvergesslich macht. Und im Gegensatz zum Ökofeminismus und der Naturmystik der Esoterikhexen begegnen wir hier einmal einer wirklich bösen Hexe, die zudem über ein wirklich bemerkenswertes und interessantes Wissen verfügt, für das seine Seele zu verkaufen einen Menschen schon in Versuchung führen kann…
Träume im Hexenhaus
Ob nun die Träume das Fieber auslösten oder das Fieber die Träume – das wusste Walter Gilman nicht zu sagen. Hinter allem lauerte das brütende, schwärende Grauen der uralten Stadt und des vermoderten, beklemmenden Mansardenzimmers, in dem er arbeitete, studierte und mit Ziffern und Formeln rang, wenn er sich nicht gerade auf dem bescheidenen schmiedeeisernen Bett von einer Seite auf die andere warf. Sein Gehör hatte eine unnatürliche, ja, unerträgliche Empfindlichkeit angenommen; schon vor Längerem hatte er die billige Uhr auf dem Kaminsims angehalten, weil ihr Ticken ihm allmählich wie Kanonendonner vorgekommen war. In der Nacht vermittelten ihm die unterschwelligen Geräusche der schwarzen Stadt dort draußen, das verstohlene Huschen der Ratten in den wurmstichigen Trennwänden und das Knarren verborgener Balken in dem jahrhundertealten Haus den Eindruck eines kaum erträglichen Pandämoniums. Die Dunkelheit war fortwährend von unerklärlichen Geräuschen erfüllt – und doch zitterte er zuweilen vor Angst bei der Vorstellung, diese Geräusche könnten verebben und ihn gewisse andere, schwächere Laute hören lassen, die er hinter dem Lärm vermutete.
Er lebte in der zeitlosen, von Legenden umrankten Stadt Arkham mit ihren dicht gedrängten Walmdächern, die sich über Kammern wölbten, wo sich in den finsteren Kolonialzeiten Hexen vor den königlichen Häschern verborgen hatten. In dieser Stadt gab es keinen Fleck, der stärker von makabren Erinnerungen durchdrungen war als das Giebelzimmer, in dem er wohnte – denn in diesem Haus, in diesem Zimmer hatte dereinst die alte Keziah Mason gewohnt, deren Flucht aus dem Gefängnis von Salem sich niemand hatte erklären können. Das war im Jahre 1692 gewesen – der Kerkermeister hatte den Verstand verloren und etwas von einem kleinen pelzigen Wesen mit weißen Reißzähnen geplappert, das aus Keziahs Zelle gehuscht sei. Die Kurven und Winkel, die mit einer roten klebrigen Flüssigkeit an die grauen Kerkermauern geschmiert worden waren, hatte noch nicht einmal Cotton Mather zu erklären vermocht.
Vielleicht hätte Gilman sein Studium nicht so intensiv betreiben sollen. Nichteuklidische Geometrie und Quantenphysik allein sind schon genug, um jedes Hirn zu strapazieren; verknüpft man sie auch noch mit volkstümlichen Überlieferungen und versucht, hinter den gespenstischen Schauergeschichten, die sich die Leute verstohlen am Kamin erzählen, einen mehrdimensionalen, realen Hintergrund auszumachen, muss man sich über seelische Belastungen kaum wundern. Gilman kam ursprünglich aus Haverhill, begann aber erst auf der Hochschule in Arkham, seine mathematischen Studien mit den versponnenen Sagen über uralte Zauberkünste zu verbinden. Anscheinend wirkte sich die Ausstrahlung der altersgrauen Stadt nachteilig auf seine Vorstellungskraft aus. Seine Professoren an der Miskatonic-Universität hatten ihn dazu gedrängt, etwas kürzer zu treten, und sein Pensum in mehreren Studiengängen bewusst eingeschränkt. Mehr noch: Sie hatten ihm verwehrt, die zweifelhaften alten Bücher über verbotene Geheimnisse zu konsultieren, die in einem Kellergewölbe der Universitätsbibliothek hinter Schloss und Riegel verwahrt wurden. Doch all diese Vorkehrungen kamen zu spät, denn Gilman verfügte bereits über einige schreckliche Hinweise aus dem gefürchteten Necronomicon des Abdul Alhazred, aus dem bruchstückhaften Buch Eibon und aus von Junzts verbotenem Werk Unaussprechliche Kulte, die er mit seinen abstrakten Formeln über die Eigenschaften des Raumes und die Verbindungen zwischen bekannten und unbekannten Dimensionen in
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