Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)
Moment, als er die Augen aufschlug, wusste er, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war: Er befand sich wieder in seiner alten Mansardenkammer mit der schrägen Wand und der abschüssigen Decke, lag auf dem nun zerwühlten Bett. Seine Kehle schmerzte unerklärlicherweise, und als er sich aufzurichten versuchte, sah er mit wachsender Angst, dass seine Füße und die Aufschläge seiner Pyjamahose braun von eingetrocknetem Schlamm waren. Im Augenblick waren seine Erinnerungen noch hoffnungslos unklar, aber eines wusste er: Er hatte wieder geschlafwandelt. Elwood hatte zu tief geschlafen, um ihn hören und aufhalten zu können. Auf dem Boden sah Gilman wirr angeordnete matschige Fußabdrücke, die aber sonderbarerweise nicht ganz bis zur Tür führten. Je länger Gilman sie betrachtete, desto eigenartiger erschienen sie ihm; zusätzlich zu den Spuren, die er als die seinen erkannte, gab es noch kleinere, fast runde Abdrücke – etwa wie von den Beinen eines Sessels oder Tischs, nur dass die meisten in der Mitte gespalten waren. Es gab auch ein paar schmutzige Rattenfährten, die in ein neues Loch hinein- und wieder hinausführten. Äußerste Verwirrung und die Angst, den Verstand zu verlieren, marterten Gilman, als er zur Tür schwankte und feststellte, dass draußen keinerlei matschige Fußspuren zu sehen waren. Je mehr von seinem scheußlichen Traum ihm wieder einfiel, desto größeres Entsetzen erfasste ihn, und es trug zu seiner Verzweiflung noch bei, dass er zwei Stockwerke tiefer Joe Mazurewiczs klagenden Singsang hörte.
Er ging hinunter in Elwoods Zimmer, weckte seinen noch schlafenden Mitbewohner und erzählte ihm, was geschehen war, aber Elwood konnte sich nicht erklären, was wirklich passiert sein mochte. Wo Gilman gewesen war, wie er zurück in sein früheres Zimmer hatte gelangen können, ohne Spuren auf dem Gang zu hinterlassen, wie es dazu gekommen war, dass sich in der Mansardenkammer schmutzige Möbelspuren mit seinen Spuren vermischten – all das war unbegreiflich. Dann waren da noch die dunklen, bläulichen Abdrücke an seinem Hals, als habe er sich eigenhändig zu erwürgen versucht. Er legte seine Hände auf die Stelle, bemerkte aber, dass sie nicht einmal ansatzweise zu den Würgemalen passten. Während er und Elwood miteinander sprachen, kam Desrochers hinzu und sagte, er habe in den frühen Morgenstunden ein schreckliches Gepolter aus dem Zimmer über ihm vernommen. Nein, nach Mitternacht habe er niemanden auf der Treppe gehört, dafür aber kurz vor Mitternacht leise Schritte in der Mansardenkammer, was ihm ganz und gar nicht gefallen habe. Dies sei, so fügte er hinzu, für Arkham eine sehr schlechte Zeit im Jahr. Der junge Herr solle besser darauf achten, das Kruzifix zu tragen, das Joe Mazurewicz ihm geschenkt hatte. Selbst am helllichten Tage sei man hier nicht mehr sicher, habe er doch nach der Morgendämmerung merkwürdige Geräusche im Haus gehört – vor allem ein dünnes kindliches Wehklagen, das abrupt erstickt worden sei.
Wie mechanisch besuchte Gilman an diesem Morgen die Universität, konnte sich aber um nichts in der Welt auf seine Studien konzentrieren. Ein Gefühl fürchterlicher Vorahnung hatte von ihm Besitz ergriffen, jeden Moment schien er einen tödlichen Schlag zu erwarten. Mittags aß er im Universitätscafé und nahm sich eine Zeitung vom Nebentisch, während er auf das Dessert wartete. Doch den Nachtisch rührte er nicht an, denn eine Meldung auf der Titelseite der Zeitung ließ ihn erstarren. Er war gerade eben noch fähig, seine Rechnung zu begleichen und zurück in Elwoods Zimmer zu taumeln.
Im Orne’s Gangway war es in der vergangenen Nacht zu einem merkwürdigen Fall von Kindsraub gekommen: Der zweijährige Sohn einer einfachen Wäscherin namens Anastasia Wolejko war spurlos verschwunden. Wie sich herausstellte, hatte die Mutter dies schon seit Längerem geahnt, doch die Gründe, die sie für diese Befürchtung genannt hatte, waren so grotesk, dass niemand sie ernst nahm. Seit Anfang März habe sie Brown Jenkin immer wieder in der Nähe ihrer Wohnung gesehen, und an dessen Grimassen und Gekicher habe sie erkannt, dass der kleine Ladislas für den schrecklichen Sabbat in der Walpurgisnacht als Opfer vorgesehen sei. Sie habe ihre Nachbarin Mary Czanek darum gebeten, bei dem Kind im Zimmer zu schlafen und es zu beschützen, doch Mary habe dazu der Mut gefehlt. Der Polizei habe sie nichts sagen können, weil die Polizisten solche Dinge nie glaubten. Jedes
Weitere Kostenlose Bücher