Chroniken der Dunkelheit - 02 - Kristallschwert
auf und prüfte den Boden vor ihr mit einem langen Ast auf seine Haltbarkeit. Endlich hielt sie in einiger Entfernung von den ersten Zelten inne. Hinter ihnen stand die Sonne bereits tief am Himmel und blaugraue Berge umgaben sie von allen Seiten.
»Wir sind am See«, sagte Fritha. Mit dem Ast fegte sie den Schnee beiseite. Darunter kam matt glänzendes Eis zum Vorschein. »Wir übernachten hier, und wenn wir ein Loch ins Eis schlagen können, fischen wir.«
Dankbar ließen die anderen ihr Gepäck und die Bündel mit Brennholz fallen. Cathbar zeigte Adrian am Ufer, wie man im Schnee eine Grube aushob, sie mit dicken Ästen auskleidete und auf die Äste Holzkohle für das Feuer legte. Elsa half Fritha unterdessen dabei, einige kürzere Holzstäbe aus ihrem Bündel zu Zeltstangen zusammenzusetzen. Vor ihnen glitzerte die Abendsonne auf dem Eis und beleuchtete die höher gelegenen Bergflanken. Ein Gipfel überragte alle anderen. An seiner Seite strömte eine Art Fluss aus Eis herunter. Das Eis leuchtete in der gelben Sonne und die Felsen daneben wirkten beinahe schwarz. Elsa spürte ein Pochen in der Hand. Dort! ,sagte die Stimme in ihrem Kopf.
»Ist das der Eigg Loki?« ,fragte sie.
Fritha nickte. »Man sieht den Gletscher an seiner Flanke, der bis zum See hinunterreicht.« Zu Elsas Überraschung begann sie zu summen. »Meine Mutter hat mir dieses Lied vorgesungen, als ich klein war«, erklärte sie. »Es handelt von Eisgeistern im Gletscher und Wassergeistern im See, von kalten Brüdern. Als Kind hatte ich keine Angst vor ihnen, weil das Lied eine so schöne Melodie hatte. Seit dem Tod meiner Mutter gefällt es mir nicht mehr so gut.« Abrupt wandte sie sich dem Zelt zu und begann Decken aufzufalten und über die Zeltstangen zu breiten. Elsa wäre am liebsten zu ihr gegangen und hätte sie an der Hand gefasst und ihr von ihrem Vater erzählt, der erst vor Kurzem ertrunken war. Doch sie traute sich nicht und half Fritha stattdessen, das Zelt aufzubauen.
Dann setzten sie sich zu Cathbar und Adrian an das kleine Feuer und aßen etwas Brot und Dörrfleisch. Ihr Proviant ging langsam zur Neige. Elsa merkte auf einmal, wie hungrig sie war, und dachte sehnsüchtig an frischen Fisch – doch Fritha erklärte, sie könnten das Eis nicht schmelzen, wie die Fischer es machten. Die Fischer machten nämlich nicht auf dem Eis selbst Feuer, sondern benutzten mit heißer Holzkohle gefüllte Pfannen mit langen Griffen. Eine solche Pfanne hatte Fritha aber nicht. Natürlich könnten sie versuchen, für die morgige Mahlzeit Fische zu fangen, aber dafür müssten sie das Eis mit Messern aufhacken.
Nach dem kargen Mahl begab Fritha sich auf die Suche nach einer Stelle, an der das Eis dünn war, und Adrian begann eifrig, mit seinem Messer auf dem Eis herumzuhacken. Doch nach einem Dutzend Hieben gab er enttäuscht auf.
»Da komme ich nie durch!«, schimpfte er und starrte erbost auf die zerkratzte Eisfläche. »Kann das Schwert uns vielleicht helfen, Elsa?«
Elsa machte einige Schritte in seine Richtung, doch etwas hielt sie zurück. Sie spürte – was? Ein sonderbares Widerstreben, geradezu Angst. Warum sollte sie das Schwert nicht verwenden? Sie wusste doch, dass es durch alles schneiden konnte. Nicht das Eis, sagte die Stimme in ihrem Kopf. Lieber nicht …
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Vielleicht sollte ich das Schwert nicht für so etwas Banales wie Essensbeschaffung verwenden.«
»Etwas Banales?«, rief Adrian. »Was nützt uns das Schwert, wenn wir verhungern?«
Cathbar nickte. »Richtig. Schlag zu, Mädchen. Vom Eis wird das Schwert nicht stumpf.«
Schwert?, fragte Elsa in Gedanken. Sie spürte ein Zögern, dann schoss das Schwert leuchtend aus ihrer Hand.
»Hier!«, rief Adrian. Er trat von einer Stelle auf dem Eis zurück und zeigte mit der Hand darauf.
Elsa war mit zwei Schritten neben ihm und stieß die Klinge in das Eis. Es fuhr hindurch – wie durch Fleisch, dachte Elsa. Sie schnitt einen Kreis aus dem Eis aus und zog das Schwert wieder heraus. Zurück blieb ein Loch, das in dem zerkratzten grauen Eis aussah wie ein Auge. Elsa betrachtete es triumphierend und wollte schon die anderen rufen, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken.
Im Wasser waren Menschen! Unter der Oberfläche trieben schemenhafte, fast durchsichtige Gestalten, deren große Augen das kalte Licht des Schwertes widerspiegelten. Sie streckten ihre dünnen Arme in Elsas Richtung aus und riefen sie bei ihrem Namen. Oder nein, nicht bei
Weitere Kostenlose Bücher