Chroniken der Dunkelheit - 02 - Kristallschwert
Dann hörte er Cathbars Stimme, zuerst ganz fern, dann deutlicher.
»… sollten uns verteilen und nach Spalten im Eis suchen. Vielleicht kann der Junge mehr ausrichten, wenn wir eine Stelle finden, wo ein Drache in den Berg eingedrungen ist.«
Adrian wollte den Kopf schütteln, doch sogar dazu war er zu schwach. Er schloss die Augen wieder …
… und plötzlich spürte er ihn, überall. Er hatte nach einer Art Horst gesucht, einer Höhle, in der die Drachen auf einem Haufen schliefen, wie Wölfe. Dann hätte er ein Augenpaar ausgesucht, ein Bewusstsein von vielen. Doch das hier war kein Horst, kein einzelnes Bewusstsein. Das Eis, das von unten gegen seinen Körper drückte, war Teil des Drachen, allerdings nur ein Teil. Er hatte übersehen, was die ganze Zeit da gewesen war, schlafend dalag, riesig groß …
Hastig kehrte er zu seinen Augen zurück. Der Drache lag direkt unter ihm. Die Eislandschaft war ein einziger gefrorener, geschuppter Rücken, so weit das Auge reichte. Er blickte sich um und sah den Kamm des Rückgrats, dem sie hierher an diesen Ort gefolgt waren … und dahinter den unvorstellbar großen breiten Kopf, außerdem einen wie ein Ohr geformten, endlos abfallenden Steilhang und weiter unten die sanft geschwungene Höhlung eines Nasenlochs und die Falten eines seitlich ausgestreckten Flügels, der weiter reichte, als sein Auge sah.
Er konnte ihn nicht in sich aufnehmen. Wie das in Flammen gehüllte Bewusstsein, das ihn zurückgestoßen hatte, war auch der Drache zu groß, sein Kopf konnte ihn nur für kurze Momente fassen. Doch er hatte ihn angestupst, seinen tiefen Schlaf gestört. Vorsichtig streckte er den Arm aus und spürte, wie der Drache sich unter ihm streckte, wie eine leidenschaftslose Neugier sich regte. Zu sehen war noch nichts.
Mach die Augen auf! ,beschwor er ihn – und sah die Flanke des Berges plötzlich mit ganz neuen Augen: Sie war mit einem seltsam milchigen Schimmer bedeckt, ähnlich einer hauchdünnen Eisschicht auf dem Wasser. Er sah den Berg im Westen, dessen Schnee noch in der Sonne glänzte, und auch die Spitze seines eigenen Berges, die grau in den dunkelblauen Himmel ragte. Plötzlich geriet alles in Bewegung und der Boden unter ihm erbebte.
Fritha hielt erschrocken die Luft an. Cathbar ächzte überrascht, packte sie am Arm und zog sie neben Adrian auf den Boden. Verzweifelt suchten sie auf dem Eis, das unter ihnen plötzlich zum Leben erwacht war, nach einem Halt. Schwerfällig hob der Drache seinen gewaltigen Kopf und sah nach rechts und links. Auch die drei wurden hochgehoben. Ringsum brachen weiße Schuppen durch das Eis und ein Krachen und Splittern tönte Adrian in den Ohren, und darunter war das tiefe Knirschen des sich verlagernden Gesteins zu hören.
»Jokul-dreki« ,flüsterte Fritha. »Ein Gletscherdrache! Wir liegen auf seinem Hals …«
»Schon die ganze Zeit«, krächzte Cathbar. »Und ich dachte, ich hätte schon alles erlebt!« Sein Gleichmut war verflogen. Er richtete sich auf und sah sich aufgeregt wie ein kleines Kind um.
Adrian konzentrierte sich wieder auf den großen Drachen. Dieser hatte seine Anwesenheit bemerkt, sie schien ihm aber nichts auszumachen. Adrian konnte sein Bewusstsein nicht lenken – genauso wenig wie er dem Meer gebieten konnte. Der Drache konnte ihn nach Belieben ausspucken wie Treibholz. Bitte hilf uns, bat er – doch er spürte im endlosen Bewusstsein des Drachen nur Gleichgültigkeit.
Und ein Fünkchen Neugier. Krachend brach eine vereiste Schulter aus dem Fels und der Kopf drehte sich zur Seite und nahm die Schneefelder am Fuß des Berges in Augenschein, deren weiches Weiß von Schatten gestreift war und die sich ohne Unterbrechung bis zur dunklen Masse des Waldes am fernen Horizont erstreckten. Adrian spürte, wie der Anblick den Drachen erfreute, aber auch, wie müde er war. Schließlich war er steinalt und hatte unendlich lange geschlafen. Sollte er wirklich aufwachen?
»Ja!«, zischte Adrian und sprach in seinem Eifer laut. »Es ist wichtig!«
Er musste den Drachen auf sich aufmerksam machen. Am Fuß des Berges lauert ein Feind, sagte er. Flieg hinunter! Greif ihn an! Doch der Drache rührte sich nicht. Langsam und träge zogen seine Gedanken an Adrian vorbei. Wie friedlich alles war, wie schläfrig er selbst und wie schön sein Zuhause … nur in einer fernen Ecke seines Bewusstseins störte ihn ein piepsiges Stimmchen.
Nein, dieser Drache hörte nicht auf Befehle. Adrian dachte an Elsa tief unter ihm und
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