Chroniken der Dunkelheit - 02 - Kristallschwert
Graben, der in über vierzig Schritt Entfernung am anderen Ende der Höhle verlief. Flammen schlugen daraus hervor, versanken wieder darin und beleuchteten mit ihrem flackernden Schein eine Gestalt an dem Felsen dahinter.
Ein hochgewachsener, muskulöser Mann hing schlaff an Ketten, die ihn an den Felsen fesselten. Elsa starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an, konnte aber hinter den emporzüngelnden Flammen nichts Genaueres erkennen.
»Der Graben, den du siehst, ist mit geschmolzenem Gestein gefüllt«, sagte Eolande leise. »Er könnte Loki keinen Moment aufhalten, wäre er nicht gefesselt, aber er verhindert, dass die Leute, deren Willen er sich unterwirft und die er ruft, zu ihm gelangen. Komm – ich kann dir hinüberhelfen.«
Der Boden war uneben und schwarz, wie mit Schlacke bedeckt. Eolande führte Elsa durch den gewaltigen Raum. Das leise Geräusch ihrer Schritte ging im Prasseln des Feuers unter. Elsa starrte wie gebannt auf die an den Ketten hängende Gestalt, die zwischen den Flammen immer wieder sichtbar wurde. Langsam näherten sie sich ihr. Das also war ihr Gegner, der Mörder ihres Vaters und zahlloser weiterer Opfer jetzt und hundert Jahren zuvor. Er hatte alles vernichtet, was ihr lieb gewesen war, ihr ganzes bisheriges Leben. Und mein ganzes Volk, meine Angehörigen, sagte Ioneth in ihrem Kopf. Alle tot. Ihre Stimme schien mit der von Elsa zu verschmelzen. Stelle dich! Hier bin ich!
Doch er hing reglos und stumm an seinem Felsen. Nicht einmal ihre Anwesenheit schien er zu bemerken. Beim Näherkommen sah sie, dass fünf Ketten an den Handgelenken, den Knöcheln und am Hals ihn an den Felsen fesselten. Den Kopf hielt er gesenkt, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Vor seinen Füßen brodelte rot und gelb und unerträglich hell geschmolzenes Gestein. Es strahlte eine ungeheure Hitze aus. Flammen tanzten über den träge dahinfließenden Feuerstrom.
Eolande hatte unterdessen einen kleinen Haufen schwarzer, schlackeähnlicher Steine vom Boden aufgesammelt und warf sie nacheinander in den brennenden Fluss – Elsa sah sie auf der Oberfläche treiben. Eolande bedeckte die brodelnde Oberfläche mit den schwarzen Steinen und leerte dann den Inhalt eines kleinen Fläschchens in ihre Hand, blies ihn über die Steine und sprach dazu Worte in einer Elsa unverständlichen Sprache. Es zischte laut und eine Rauchwolke stieg von dem Strom auf und verdrängte die Flammen. Der Rauch verzog sich und Elsa sah, dass die schwarzen Steine sich zu einer Brücke verbunden hatten, einer schmalen Brücke, die nicht besonders stabil wirkte, aber das Feuer, wenigstens vorerst, auf Abstand hielt.
»Geh schnell hinüber«, sagte Eolande. »Sie hält nicht lange.«
Elsa setzte vorsichtig einen Fuß auf die Brücke. Sie schien ihr Gewicht zu tragen. Sie betrat die Brücke ganz und ging hinüber. Sie spürte, wie die Brücke unter Eolandes Gewicht erzitterte.
Sie gelangte ans andere Ufer und in diesem Augenblick bewegte sich die an den Felsen gefesselte Gestalt zum ersten Mal. Ein leises Stöhnen oder Knurren ertönte. Als wäre er erschöpft, hing er mit angespannten Muskeln an den Ketten, die ihn festhielten. Sein Kopf war nach vorn gekippt, als sei er zu schwer, um ihn zu heben. Elsa sah nur einen Schopf schwarzer Haare. Sie trat näher und der Mann sprach, ohne den Kopf zu heben. Seine Stimme klang leise und heiser.
»Endlich bist du da.«
Das Schwert in ihrer Hand leuchtete weiß auf. Jetzt!
Unaufhaltsam näherte Elsa sich der Gestalt. Ohne ihren Willen hob ihr Arm sich, um zuzuschlagen. Sie spürte Eolande hinter sich, spürte das Schwert, das an ihrer Hand zog, und wie beide sie drängten – ihr Körper schien ihr nicht mehr zu gehorchen. Doch ihre Gedanken gehörten immer noch ihr. Der Gefesselte vor ihr besaß nicht einmal die Kraft, den Kopf zu heben … wie konnte er ein Gott sein? Seine nackten Arme waren gebräunt und glänzten schweißnass, und er trug einen groben Kittel, wie ihn die Seeleute zu Hause getragen hatten.
Ich kann ihn nicht einfach so töten! ,sagte sie zu dem Schwert.
Jetzt! ,wiederholte die Stimme. Jetzt! Bevor er dich ansieht.
Elsa trat noch einen Schritt näher, so nahe, dass sie zuschlagen konnte. Das Schwert vibrierte in ihrer Hand und zog ihren Arm nach vorn. Da hob die Gestalt den Kopf und lächelte sie an.
Sie stand vor ihrem Vater.
Das Herz in ihrer Brust fühlte sich auf einmal an wie ein Stein. Sie konnte sich nicht mehr rühren, so schwer war es. Ihr war eiskalt.
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