Chroniken der Jägerin 3
verzeihen …«
»Aber wenigstens werden wir dein Geschrei nicht hören«, sagten die Zwillinge. Und ich sah zu meinem Schrecken, wie sie meinen Körper so fest traten, dass ich wegrollte.
Der Gigant schrie auf und versuchte, mich festzuhalten. Aber er konnte mich nicht mehr erreichen.
Ich fiel. Ich fiel und fiel. Die Dunkelheit verschluckte mich.
Niemand hörte mich schreien.
Nicht einer. Keiner hörte mich schreien.
Bis plötzlich Hände über mein Haar strichen.
Ich schmeckte Piniennadeln auf meiner Zunge und schloss den Mund.
Ich hörte Zwillingsstimmen, die in mein Ohr summten, und als ich meine Beine bewegte, waren sie nicht mehr gefesselt. Genauso wenig wie meine Hände.
»Verrat«, sagte Oturu noch einmal. Aber ich konnte ihn kaum hören.
Zee zischte. Um meinen Hals geschlungen zitterten Dek und Mal. Rohw oder Aaz konnte ich zwar nicht sehen, aber ich spürte, dass sie in der Nähe waren, und hörte knackende Geräusche. So als dehnten sie ihre Knöchel.
Ich setzte mich langsam auf. Mein Kopf schmerzte. Ich fühlte mich benommen. Die Jungs hielten mich aufrecht, und ich schluckte mühevoll, um mich nicht übergeben zu müssen.
»Was war das?«, fragte ich heiser.
»Erinnerungen«, sagte Oturu. »Erinnerungen, die unsere Herrin uns geschenkt hat.«
»Es fühlte sich so wirklich an.« Ich schloss die Augen. »Und die anderen, das waren Wächter.«
»Von den Aetar geschaffen, den Avataren, um ihnen zu Willen zu sein. Und ihr Wille war es, unsere Herrin zu bewachen. Unsere Herrin, die ihnen vertraute.«
Ich zitterte. »Und wohin haben sie sie geworfen …«
Ich konnte meinen Satz nicht beenden. Auf meiner Haut rumorte es.
»Du kennst den Ort«, flüsterte Oturu. »Du warst schon in jenem gewundenen Labyrinth und bist über den dunklen Pfad gegangen. Aber es ist nur dir gelungen, heil wieder zurück ins Licht zu finden. Als sie schließlich zurück in die Freiheit stolperte …«
Auch er hielt inne. Mir war kalt, und ich sah zu Zee hinüber. »Die Wächter haben meine Ahnfrau in die Ödnis geworfen!«
Zee senkte den Kopf und ließ die Schultern hängen. »Das weiß niemand. Auch nicht der Wolf. Niemand. Nicht einmal die Wärter. Nur ganz wenige, ganz böse.«
»Und dann? Dachten sie etwa, sie dorthin zu bringen würde das … Problem lösen? Das würde euch fünf daran hindern auszubrechen?«
»Es hätte funktionieren können«, entgegnete Oturu. »Sie hätte sich eben nicht befreien sollen. Ebenso wenig wie du.«
»Ich habe dort einen … Leichnam gefunden. Ich weiß, dass es ihr Leichnam war.«
»Das war später.« Oturus Haare flatterten wild um seinen Leib. »Sie hat den Tod gewählt. Um ihre Tochter vor dem eigenen Wahnsinn zu beschützen.«
Ich legte mich wieder hin und blickte in den Nachthimmel. Zee krabbelte näher und kuschelte sich in meinen Arm. Rohw und Aaz folgten ihm. Sie rochen nach Butter, ihre Klauen waren fettig.
»Sie hat sich in einem gewissen Grad selbst verloren«, flüsterte
Oturu. »Ihre Zeit in der Ödnis brachte sie näher an das heran, was bereits in ihr schlief. Letzten Endes zu nah.«
»Sie wollte sich rächen.«
»Sie wollte Gerechtigkeit.«
Ich holte tief Luft und atmete langsam aus. »Ihretwegen sind alle Wächter verschwunden. Außer unserer Blutlinie ist niemand übrig geblieben. Sie hat sie alle umgebracht.«
Niemand widersprach mir, aber Rohw und Aaz wechselten verunsicherte Blicke miteinander, so dass ich mich fragte, ob es wohl noch mehr gab, das ich nicht wusste. Ich war bereits im Begriff, mich danach zu erkundigen, aber Zee griff meine Hand und zog daran. »Vor der alten Mutter hatten viele Angst, aber ihr Herz … ihr Herz war aus Eisen und Honig.«
»Das ändert nichts daran, dass sie verrückt geworden ist. Keiner von euch streitet das ab. Sie hat vielen Leuten wehgetan.«
»Ihre Kraft war zu groß. Was als gerechte Sache begonnen hatte, verwandelte sich in etwas anderes.« Oturu senkte den Kopf. Sein Haar und sein Umhang hingen reglos herab. »Wir blieben bei ihr, auch als die Jagd schlechter wurde. Wir waren ihre Freunde. Alle ihre Geheimnisse hat sie uns offenbart. Einige davon werden wir behalten. Aber sie befürchtete, dass sich das, was sie zerstört hatte, wieder erheben könnte.«
»Dieses Etwas in mir. Sie fand es zufällig. Ich war ihm schon ganz nah, als ich geboren wurde.«
Oturus Haare flatterten und verdrehten sich. Wie schwarze Flammen züngelten sie empor.
»Auch deine Mutter war ihm schon ganz nah«, erwiderte
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