Chroniken der Jägerin 3
Wäsche. Rex konnte ich nicht sehen, doch Jack saß im Schneidersitz auf der Couch. Mary hockte vor ihm auf dem Boden und hatte die Schlachtermesser ordentlich neben sich gelegt. Aaz saß schon in ihrer Nähe und hielt ein Knäuel purpurner Wolle in den Klauen. Irgendwo und irgendwie hatte Mary Stricknadeln gefunden, und nun sah es so aus, als strickte sie einen Schal für kleine Dämonen.
Mein Großvater hielt einen Knochen in der Hand: den Knochen, der ein Gegenstück zu meiner Narbe war. An seiner Unterseite hätte Fleisch haften müssen, aber er sah ganz sauber und weiß aus, sogar alt, fand ich. Ich fragte mich, aus wie vielen Körpern er im Verlauf der Jahre wohl entfernt worden war.
Jack hielt seine Augen geschlossen. Er schien zu meditieren. Falls er aber schlief, wollte ich lieber nicht wissen, wovon er träumte. Vielleicht wusste es Grant. Er musterte ihn mit einer gewissen Distanz, als hätte Jack die Krätze oder irgendetwas Vergleichbares an sich oder seiner Aura, etwas, das er lieber nicht berühren wollte.
»Jack«, sagte ich.
Mein Großvater holte tief Luft und öffnete die Augen. Zuerst
erkannte er mich gar nicht, sondern sah durch mich hindurch, ganz auf ein fernes Geheimnis konzentriert.
»Jack«, wiederholte ich.
»Mein liebes Mädchen«, antwortete er mit brüchiger Stimme. »Was für ein Tag ist heute?«
Ich wechselte kurz einen Blick mit Grant. »Es ist erst ungefähr dreißig Minuten her, dass du diesen Knochen aus deinem … alten Arm herausgezogen hast.«
»Mmm.« Er schloss die Augen wieder, rollte die Schultern und drückte den Knochen auf seine Brust. »Das könnte deutlich länger dauern, als ich gedacht hatte.«
»Was tust du da eigentlich?«
»Ich suche nach Zusammenhängen.« Wieder öffnete er die Augen. »Auch wenn es nicht so aussieht: Dieses Objekt ist ein Buch. Und es ist mit … Mustern versehen … die ich als Hoher Lord des Göttlichen Organischen benutzt habe.«
»Also gleicht es doch einem Ring der Saat.«
»Nicht ganz, aber so ähnlich.« Jack verzog das Gesicht, schloss die Augen und rutschte tiefer in die Sofakissen hinein. »Vielleicht solltest du mal eine Runde spazieren gehen?«
»Vielleicht solltest du dich mal beeilen.«
Er kniff den Mund zusammen. »Liebes, ich habe mich nicht abgehetzt, als ich deinen Geburtstagskuchen gebacken habe, und ich werde mich auch nicht hetzen lassen, wenn es darum geht, mich daran zu erinnern, wie man diese Welt retten kann.«
»Vielleicht wäre es besser gewesen, sich ein Lesezeichen zu machen«, bemerkte Grant.
Jack verzog das Gesicht. Ich kauerte mich neben Aaz und tätschelte seinen Kopf. Grinsend zeigte er seine Zähne und hielt mir sein Wollknäuel hin.
»Süß«, sagte ich. »Bleib doch hier, wenn du kannst, Kumpel. Und behalt Mary und den alten Wolf im Auge.«
»Behalt das Auge im Auge«, sagte Mary zu mir und klapperte mit den Stricknadeln. »Der Himmel weint blutige Tränen.«
Grant zog mich hoch. »Mary, wir sind bald zurück.«
Die alte Frau lächelte ihn an, hörte aber nicht auf zu stricken, nicht einmal dann, als sie ihre müden Augen auf Jack richtete. Sie beobachtete den alten Mann immer noch, mit flinken Fingern und Stricknadeln, während wir die Tür der Wohnung hinter uns zuzogen.
17
D rei Monate, nachdem ich nach Seattle gezogen war, drei Monate, bevor ich meinen Großvater gefunden hatte und der ganze Ärger angefangen hatte, waren Grant und ich für ein Wochenende Richtung Norden nach Vancouver in Kanada gefahren, um uns die Stadt anzuschauen. Ich war mein ganzes Leben lang Touristin gewesen, hatte aber von einem bestimmten Alter an aufgehört, es zu genießen. Eine Stadt war wie die andere. Es gab immer einen Zombie, der exorziert werden musste; immer etwas Böses, das wieder auf die richtige Spur zu bringen war.
Wir saßen auf einer Bank im Stanley Park, als ich ihn endlich fragte, wie es eigentlich zu seiner Beinverletzung gekommen war.
»Ich bin da einfach in etwas reingeraten«, sagte er, während er den Graugänsen Brotstücke hinwarf. »Da gab es einen Mann, einen Schizophrenen. Er war schon in allen möglichen Anstalten gewesen und war gewalttätig, auf eine erschreckende Art. Aber nur gegen sich selbst. Er verweigerte seine Medikamente und blieb nirgendwo so lange, dass die Sozialarbeiter mit ihm hätten richtig arbeiten können. Keine Unterkunft in der Stadt wollte ihn noch aufnehmen. Ich dagegen war übermütig, hatte Riesenkräfte. Deshalb versuchte ich es auf meine Art. Aber
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