Chroniken der Weltensucher 02 - Der Palast des Poseidon
begreifen. »Und die Passagiere? Was ist mit Eliza, Charlotte und Wilma? Was ist mit den Seeleuten?«
Humboldt schüttelte den Kopf. »Möge Gott ihnen beistehen.«
Die Calypso starb, Charlotte konnte es hören. Das Stöhnen des Rumpfes und das Ächzen der Schotten wurde nur noch vom Gluckern und Rauschen des hereinströmenden Wassers übertönt. Eliza hatte recht gehabt: Das Schiff sank, und das mit jeder Minute schneller. Luftblasen trieben an der Scheibe vorbei. Luftblasen, die von irgendeinem rötlichen Licht angestrahlt wurden.
Charlotte presste die Lippen aufeinander. In was für eine Katastrophe waren sie da wieder hineingeraten? Sie hatten viel zu sehr auf die Technik vertraut. All die kühnen Pläne – dass ihr Sonar sie warnen, dass die hochgezüchtete Dampfturbine ihnen die Flucht ermöglichen würde – vergebens. Womit sie nicht gerechnet hatten, war menschliches Versagen. Die Sturheit des Kapitäns gekoppelt mit dem Unvermögen, das Offensichtliche zu erkennen und die richtigen Entscheidungen zu treffen, das war es, was letztendlich den Ausschlag gegeben hatte. Nun würde die Calypso das Schicksal all der anderen Schiffe teilen, die hier mit Mann und Maus gesunken waren.
Zum Glück funktionierte die Stromversorgung noch. Die Lampen im Sonarraum flackerten zwar, aber sie leuchteten. Es war ein Wunder, schließlich mussten große Teile des Schiffes, einschließlich der Stromgeneratoren, überflutet sein. Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ausfielen. Dann würden sie die letzten Stunden ihres Lebens in ewiger Nacht verbringen. Charlotte schluckte. Ihre Ohren knackten – ein sicheres Zeichen, dass der Druck zunahm. Sie hielt ihre Nase zu und machte einen Druckausgleich.
Auf einmal hörte sie Stimmen von der anderen Seite der Kabinentür. Jemand hustete, dann erklang energisches Klopfen.
»Il y a quelqu’un?«, ertönte plötzlich eine Männerstimme.
»Oui«, antwortete Eliza. »Nous sommes içi.«
»Ouvrez la porte, s’il vous plaît. Elle est fermée.«
»Überlebende!«, rief Eliza. »Wir sollen sie reinlassen. Schnell, hilf mir.«
Charlotte verließ ihr schützendes Versteck und kroch zu Eliza hinüber. Das Schiff hatte immer noch eine beträchtliche Schieflage. Gemeinsam versuchten sie, die Tür zu öffnen. Sie hatte sich durch den Angriff verklemmt. Endlich gelang es ihnen, den Riegel hochzudrücken. Mit einem Quietschen sprang die Tür auf.
Sieben sehr mitgenommen aussehende Matrosen humpelten herein. Einer von ihnen musste gestützt werden. Eine Kopfverletzung zog sich quer über seine Schläfe. Charlotte erkannte, dass es Clement war. Der freundliche Mann, an dessen Seite Oskar so viel Zeit verbracht hatte. Ein kurzes Lächeln huschte über seine Lippen. »Guten Abend, die Damen.«
»Rein mit Ihnen«, sagte Eliza und half den Männern, durch den Spalt zu kommen. Als alle drinnen waren, spähte sie zur Tür hinaus. »Kommen noch mehr?«
Clement schüttelte den Kopf. »Ich fürchte nein.«
Charlotte spürte, wie sich ihr Herz zusammenkrampfte. »Was ist denn mit den anderen?«
»Sie haben es nicht geschafft.«
»Oh mein Gott.«
»Sie sollten die Tür schnellstens wieder schließen«, riet Clement. »Das Wasser beginnt zu steigen.«
»Komm, Charlotte«, sagte Eliza. »Alleine schaffe ich es nicht.«
Gemeinsam drückten sie die Tür wieder zu und legten den Riegel vor. Dann gingen sie zu den anderen.
Die Männer waren am Ende ihrer Kräfte. Einige von ihnen ließen sich einfach niedersinken, die Köpfe zwischen den Armen vergraben, andere krochen zu den Bullaugen und blickten hinaus. Allen war anzusehen, dass sie die Hölle durchgemacht hatten.
Clement drückte ein Taschentuch gegen seine Schläfe.
»Soll ich mir das mal ansehen?«, fragte Eliza.
»Ist nur eine Platzwunde«, erwiderte Clement. »Nicht der Rede wert. Danke, dass Sie uns geholfen haben. Doch leider ist es nur eine Frage der Zeit, bis das Wasser uns erreicht.«
»Was hat uns denn angegriffen?«, fragte Charlotte. »Haben Sie etwas Genaueres erkennen können?«
»Es war …«, Clements Stimme stockte, »… es war eine Art Riesenkrake. Ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben soll. Es hatte riesige mechanische Arme, mit denen es nach uns gegriffen hat. Es hat die Calypso gepackt und in die Tiefe gezogen, als wäre sie ein Spielzeugschiff. Wir hatten Glück, dass wir uns gerade noch rechtzeitig unter Deck flüchten konnten. Einige unserer Kameraden wurden über Bord gespült. Ich konnte
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