Chroniken der Weltensucher 03 - Der gläserne Fluch
Ich verlange eine Erklärung.«
Gertrud Bellheim lächelte entschuldigend. »Es tut mir leid. Ich hatte so gehofft, dass er Sie erkennen würde. Wenn Sie möchten, erkläre ich Ihnen alles. Aber nicht hier. Lassen Sie uns hoch in den Salon gehen. Dort werden wir sicher eine Tasse Tee bekommen.«
Der Salon war gut besucht. Etliche Besucher des Vortrags saßen bei einem Wein, einem Bier oder einer Tasse Kaffee beisammen und sprachen über das Gehörte. Gelächter erklang und im Hintergrund klapperte Geschirr. Ein leichter Geruch von Tabak durchströmte den Raum.
Gertrud Bellheim deutete auf eine rot gepolsterte Sitzgruppe und winkte einen Diener herbei. »Möchten Sie etwas bestellen?«
Charlotte nahm eine heiße Zitrone und Humboldt einen Tee. Sie selbst bestellte einen Wein und ein Glas Wasser. Nachdem der Diener davongeeilt war, begann sie zu erzählen.
»Mein Verdacht, dass etwas nicht stimmte, fing etwa zwei Wochen nach seiner Rückkehr an. Richard war früher nie vergesslich, aber jetzt neigte er dazu, Dinge herumliegen zu lassen und morgens bis zehn oder elf zu schlafen. Anfangs dachte ich mir nichts dabei und schob es auf die Strapazen der Reise, doch nach einer Weile wurde ich misstrauisch. Er war schon oft auf Reisen gewesen und immer hatte er schnell wieder ins Alltagsleben zurückgefunden. Doch diesmal war es anders. Er schien die einfachsten Dinge vergessen zu haben: wie man sich einen Schnürsenkel zubindet, wie man Messer und Gabel hält, wie man sich eine Pfeife anzündet. Und er vergaß Erlebnisse, die uns einmal viel bedeutetet haben. Wie wir uns kennengelernt hatten, unser erstes Rendezvous, unseren ersten Kuss …« Tränen schimmerten in ihren Augenwinkeln. Sie öffnete ihre Handtasche, holte ein Stofftuch heraus und tupfte sie ab.
»Ich kann gut verstehen, wie schlimm ein solcher Gedächtnisverlust für den Ehepartner sein muss«, sagte Humboldt mitfühlend. »Haben Sie Rücksprache mit einem Arzt gehalten?«
»Natürlich«, schniefte sie. »Wir waren sogar an der Charite. Ich nahm Richard unter dem Vorwand einer allgemeinen Gesundheitsüberprüfung mit und ließ ihn von Kopf bis Fuß untersuchen. Er wehrte sich nicht mal dagegen.«
»Und was kam dabei heraus?«
»Nichts. Die Ärzte attestierten ihm die Gesundheit eines jungen Mannes. Nur sein Gedächtnis sei etwas schwach, aber das könne bei Männern um die vierzig schon mal vorkommen, sagten sie. Ich aber wusste es besser.« Sie schüttelte den Kopf. »Die Art seiner Vergesslichkeit, das war es, was mir Sorgen bereitete. Es waren ja nicht irgendwelche Kleinigkeiten, an die er sich nicht mehr erinnerte. Es waren Dinge, die eine große Bedeutung für ihn hatten. Weg, fort, verschwunden.« Sie schnippte mit dem Finger. »So, als hätte es sie nie gegeben. An andere Dinge erinnerte er sich dafür mit unglaublicher Klarheit. Zum Beispiel wusste er, wie viele Steinplatten auf dem Weg zu unserem Haus liegen und wie viele Seiten unsere Bibliothek umfasst. Überhaupt, Bücher …« Sie steckte das Taschentuch zurück. »Ganze Passagen konnte er mir aufsagen. Wörtlich zitiert und ohne den geringsten Fehler. Dafür wusste er nicht mehr, an welchem Tag sein Geburtstag ist.«
»Vielleicht ist es eine bestimmte Form der Demenz«, warf Charlotte ein. »Eine krankhafte Form der Vergesslichkeit.«
»Das war auch mein erster Gedanke, aber die Ärzte schlossen das kategorisch aus. Sie sagten, dafür sei sein Kurzzeitgedächtnis zu ausgeprägt.« Mit einem entschuldigenden Lächeln nippte sie an ihrem Wein. »Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich mich an Sie gewendet habe.«
Charlotte konnte sehen, wie schwer es ihr fiel, darüber zu reden. Es war bewundernswert, wie sehr sie ihre Gefühle unter Kontrolle hielt.
»Wie können wir Ihnen helfen?«, fragte Humboldt.
Gertrud Bellheim stellte das Glas zurück und sah dem Forscher fest in die Augen. »Ich möchte Sie einladen, mich und meinen Mann am Silvesterabend zu besuchen. Ich habe einige Gäste eingeladen, hauptsächlich Bekannte aus Richards Jugend. Ich möchte ihm das Gefühl vermitteln, umgeben von alten Freunden zu sein. Vielleicht hilft das ja seinem Gedächtnis auf die Sprünge. Es würde mir viel bedeuten, wenn Sie und Ihre Begleiter kommen könnten. Nicht nur, weil Sie einer seiner ältesten Freunde sind, sondern vor allem, weil Sie den Ruf haben, unerklärlichen Phänomenen auf die Spur zu kommen.« Sie warf dem Forscher einen bedeutungsvollen Blick zu. »Ganz recht, ich habe
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