Chroniken der Weltensucher 03 - Der gläserne Fluch
man ja nirgendwohin. Von solchen Kleinigkeiten lassen wir uns doch nicht aufhalten. Wir sind Wissenschaftler, keine Diplomaten. Ach, übrigens, wie sind Sie eigentlich an ihnen vorbeigekommen?«
»Ich habe ihr Vertrauen gewonnen. Die Dogon sind unsere Freunde.«
Wilson zog eine Braue hoch. »So? Na, dann tut es mir herzlich leid. Wie gesagt, sie waren es, die angefangen haben. Ich habe mich bemüht, den Schaden so gering wie möglich zu halten, sagen Sie das Ihren Freunden.«
»Ich werde es ihnen mitteilen, sobald sie ihre Toten begraben haben.«
Der Rest des Weges verlief schweigend. Auch dem Letzten war jetzt klar geworden, dass die Fronten abgesteckt und die Gräben unüberwindlich waren.
Als sie die Treppen zum Tempel hinaufstiegen, ergriff Humboldt erneut das Wort. »Wussten Sie übrigens, dass die Dogon mit unserer Ankunft gerechnet haben?«
Der Meteoritenjäger hielt auf der obersten Treppenstufe an. »Gerechnet? Wie meinen Sie das?«
»Es gibt eine Prophezeiung in ihrer Stammeslegende. Sie handelt von vier Halbgöttern, die auf einem geflügelten Tier angereist kommen. Es markiert eine Zeitenwende. Der alte Zyklus ist zu Ende und ein neuer kann beginnen. Sie sind sicher mit dem Siriusrätsel vertraut?«
»Selbstverständlich.« Wilson reckte sein Kinn vor. »Jeder, der dieses Land bereist, kennt die Geschichte. Dass die Dogon einen Stern anbeten, der den hellen Sirius in einem Zeitraum von fünfzig Jahren umkreist, dass dieser Stern erst in unserem Jahrhundert mit modernen astronomischen Werkzeugen gefunden wurde, dass die Dogon ihn aber schon seit vielen Hundert Jahren kennen – all das ist mir bekannt. Ich verstehe nur nicht, was das mit uns zu tun hat.«
»Wussten Sie auch, dass es einen übergeordneten Zyklus gibt? Den Angaben ihres Astronomen zufolge tritt nach der dreizehnten Umkreisung eine Zeitenwende ein. Die Dreizehn ist eine Unglückszahl bei den Dogon. Dreizehn mal fünfzig Jahre, das entspricht sechshundertfünfzig Jahren – der Beginn der Zeitenrechnung der Dogon. Auch sie jährt sich heute. Laut Prophezeiung soll das Land an diesem Tag von einer unaussprechlichen Plage heimgesucht werden. Einer Plage, die im Gefolge einer Armee des Bösen über das Land hereinbricht. Tausend Jahre Dunkelheit werden über das Land gehen, ehe es wieder gereinigt ist und der Zyklus des Lebens von Neuem beginnen kann.«
»Und?«
Humboldt blickte sein Gegenüber ratlos an. »Und? Wie können Sie das fragen? Mit Ihrem grausamen Eroberungsfeldzug haben Sie alle Weissagungen der Dogon erfüllt. Ist Ihnen das nicht bewusst?«
Sir Wilson schwieg einige Sekunden lang mit versteinerter Miene, dann brach er in schallendes Gelächter aus.
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Er lachte, dass es von der Tempelfassade widerhallte. Archer und seine Spießgesellen stimmten mit ein. Im Angesicht des mächtigen Bauwerks wirkte ihr Gelächter seltsam fehl am Platz. Es dauerte eine ganze Weile, ehe die Männer wieder zur Ruhe kamen. »Also wirklich, Herr Humboldt.« Wilson wischte eine Träne aus seinem Augenwinkel. »Ihr Deutschen habt doch einen besonderen Sinn für Humor. Ganz ausgezeichnet.«
Humboldt hob sein Kinn. »Ich habe die Geschichte nicht zu Ihrer Belustigung erzählt.«
»Dann meinen Sie das also ernst?« Wilson kräuselte amüsiert die Lippen.
»Vollkommen ernst.«
»Dann sind Sie kein bisschen anders als diese Eingeborenen. Tausend Jahre Dunkelheit. Was für eine Geschichte.«
Der Forscher verschränkte die Arme vor der Brust. »Dann leugnen Sie also die Fakten?«
»Welche Fakten, Herr Humboldt? Wir reden von Mythen und Legenden. Von Märchen, um genau zu sein.« Wilson schüttelte den Kopf in gespielter Enttäuschung. »Wenn Sie wüssten, was ich mir in all den Jahren schon für Geschichten und Prophezeiungen anhören musste. Kometen und Meteoriten sind seit Menschengedenken Vorboten des Unglücks und der Pestilenz. Selbst im alten China war das schon bekannt. Es gibt wohl keine Sternschnuppe, bei der nicht ein paar Menschen irgendwo auf der Welt ein Kreuz geschlagen und ein schnelles Vaterunser gesprochen haben. Aberglaube und Hokuspokus gehören für mich zum täglichen Brot. Hätte ich jedes Mal auf das Geschwätz der Leute gehört, dann wäre ich heute noch ein kleiner Sachbearbeiter irgendwo in den ehrwürdigen Hallen der Londoner Universität. Nicht der kleinste Krümel Iridium läge in meinem Safe. Ganz zu schweigen von diesem hübschen Stück hier.« Er tippte mit dem Fingernagel gegen die Silberkugel in
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