Chroniken der Weltensucher 04 - Der Atem des Teufels
»Ich wünschte, ich hätte ihn mal kennengelernt.«
»Das wirst du noch«, sagte Humboldt. »Wenn die Zeit gekommen ist. Spätestens zur Einweihung meiner neuesten Erfindung.« Er legte die Bänder zurück in den Koffer und verschloss ihn gewissenhaft.
»Wie sehen Ihre weiteren Pläne aus?«, fragte Lilienkron. »Was haben Sie vor, wenn wir gelandet sind?«
»Zuerst mal müssen wir das Vertrauen dieses Königs gewinnen. Ich habe das Gefühl, dass er eine Schlüsselfigur in dieser Sache ist.«
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Lilienkron.
Humboldt zuckte mit den Schultern. »Nennen Sie es Eingebung oder Intuition. Ich habe mich noch eine Weile mit Poortvliet unterhalten und bin zu der Einsicht gelangt, dass dieser König über Informationen verfügt, ohne die unsere Nachforschungen zum Scheitern verurteilt sind.«
Hoch oben vom Gipfel eines Berges verfolgten fremdartige Augen den Vorbeiflug des seltsamen Luftfahrzeugs. Das Wesen, das dort saß und das Luftschiff betrachtete, war alt. Sehr alt. Es war hier gewesen, ehe die ersten Wasserfahrzeuge eintrafen, die ersten Maschinen gebaut und die ersten Fabriken errichtet worden waren. Es hatte beobachtet, wie das Land unter seinen Füßen sich veränderte. Wie Wälder gerodet und Felder angelegt wurden, wie Straßen und Wege die Landschaft zernarbten und Häuser entstanden.
Zuerst begann alles ganz langsam. Hier und da ein Bauernhof, da und dort eine Straße. Dann wurden es mehr. Gehöfte, Dörfer, Siedlungen schossen wie Pilze aus dem Boden. Es war, als habe eine Krankheit das Land heimgesucht, als wäre es von einem Geschwür befallen, das sich langsam in alle Richtungen ausbreitete. Erdacht und erbaut von Menschen, die so stolz über ihren Wohlstand und ihren Fortschritt waren, dass sie vergessen hatten, dass ihr Glück nur gestohlen war. Dass ihr ganzer Wohlstand auf dem Leid und dem Elend eines versunkenen Volkes erbaut war. Irgendwann, in nicht allzu ferner Zukunft, würden die Menschen die Schuld zurückzahlen müssen.
Der Beobachter hob den Kopf. Seine Hörner zeichneten sich scherenschnittartig gegen den hellen Hintergrund ab. Schwarzer Sand rieselte von seiner Haut. Die Sonne hatte seine Augen im Laufe der Jahrhunderte mit einer dicken Schicht von Feldspat und Quarz bedeckt. Er konnte jedoch immer noch gut genug sehen, um den merkwürdigen Vogelschwarm zu erkennen, der da näher kam. Der Schwarm wurde größer und größer. Bald war klar, dass es etwas Künstliches war. Eine Maschine. Eine neuartige und von Menschen erbaute Maschine. Ein fliegendes Schiff.
Der Beobachter versank in mineralische Gedanken. Sein Herrscher hatte also recht gehabt. Hatte sich die Welt bereits so weit verändert, dass der Mensch jetzt den Himmel eroberte? War seine Macht in den letzten Jahren tatsächlich so gewachsen?
Schwerfällig raffte sich der Beobachter auf und stieß seinen Fuß in die Erde. Einmal, zweimal, dreimal. Das Signal sauste durch den Erdmantel und wurde zu Füßen des Berges als schwaches Beben wahrgenommen. Tonkrüge fielen um, ein Schuppen brach zusammen, eine Kuh entwischte. Eine ganz normale kleine Erschütterung für die Menschen im Tal. Nichts, worüber man sich Sorgen machen musste. Wie hätten sie auch ahnen können, dass es ein Signal war? Ein Signal an etwas, das tief unter ihren Füßen in der Erde hauste.
17
»Charlotte, könntest du mir bitte kurz die Ahle dort reichen? Dieser verdammte Knoten hier hat sich völlig zusammengezogen.«
Oskar steckte seinen schmerzenden Daumen in den Mund. Er hing kopfüber in drei Metern Höhe in der Takelage und hatte sich bei dem Versuch, das Tau freizubekommen, beinahe den Fingernagel abgebrochen.
Die Nichte des Forschers sah zu ihm hoch. Sie trug Wilma auf dem Arm und ließ ihr blondes Haar im Wind flattern. Unvermittelt musste sie lachen. Oskar sah zu komisch aus. Es war das erste unbeschwerte Lachen seit Tagen.
»Was tust du eigentlich da oben?«
»Humboldt hat gesagt, ich solle die Takelage in Ordnung bringen. Einige Seile haben sich beim Ablegemanöver irgendwie verdreht. Jetzt besteht die Gefahr, dass sich Knoten bilden, die ein Loch in die Ballonhülle reißen.«
»Und wieso hängst du mit dem Kopf nach unten?«
»Weil ich so besser arbeiten kann. Ich hake meine Beine ein und habe die Hände frei, siehst du? Außerdem sehe ich die Welt dadurch auf dem Kopf. Hast du das schon mal probiert? Es sieht aus, als stünde ich mit den Füßen auf der Ballonhülle und der Himmel über
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