Chroniken der Weltensucher – Das Gesetz des Chronos
sich schon entschlossen, den Artikel doch zu bringen, als sein Chefredakteur hereingeschneit war und ihm die Titelstory über den Besuch des Kaisers in der Ausstellung versprochen hatte. Der Bericht über das Zeitschiff war wieder in Vergessenheit geraten.
Einen kurzen Moment lang wurde seine Aufmerksamkeit von einem schreienden Kind abgelenkt, und als er wieder zu der Stelle blickte, war Humboldt verschwunden. Der Reporter suchte ihn noch eine Weile, konnte ihn jedoch nirgends entdecken.
*Â *Â *
Charlotte sah ihren Onkel auf sich zukommen und winkte ihn in ihr Versteck hinter dem Treppenaufgang der Nationalgalerie. »Und? Hast du ihn schon entdeckt?«, fragte sie, als er bei ihr eintraf.
Humboldt schüttelte den Kopf. »Noch keine Spur von dem Attentäter. Ist aber auch schwierig, die genaue Stelle festzumachen, bei dem Gedränge, das hier herrscht. Man könnte theoretisch zwei Meter von ihm entfernt stehen und würde ihn trotzdem nicht erkennen. Bis es zu spät ist.«
»Und was sollen wir dann machen?«
»Uns bleibt nichts übrig, als die Augen offen zu halten und zu hoffen, dass die Skizze präzise genug ist. Wo sind Oskar und die anderen?«
»Irgendwo in der Nähe des Eingangs. Sie haben sich verteilt und beobachten, was sich so tut.«
»Ich hoffe, sie benehmen sich nicht zu auffällig. Ich habe gerade Fritz Ferdinand von der Berliner Morgenpost entdeckt. Da drüben auf dem Sockel, siehst du? Ich glaube, er hat mich auch gesehen, ich konnte aber schnell genug untertauchen. Was wir auf keinen Fall brauchen können, ist Aufmerksamkeit. Wie spät?«
»Noch sieben Minuten«, sagte Charlotte mit Blick auf ihre Uhr.
»Dann werde ich mich mal auf den Weg machen. Du weiÃt, was du zu tun hast.«
Charlotte nickte. »Meinst du, er ist wirklich pünktlich? Bisher sieht es nicht so aus, als würde er rechtzeitig vor die Tür treten.«
»Er wird kommen, verlass dich drauf«, sagte Humboldt. »Die Zeit macht keine Fehler.«
*Â *Â *
Oskar stieg auf den Sockel einer Säule und blickte über die Köpfe der Anwesenden hinweg. Die Zahl der Zuschauer war mittlerweile auf ungefähr tausend angewachsen. Gendarmerie und berittene Polizei bemühten sich, die Menge unter Kontrolle zu halten. Schwierig, in diesem Durcheinander eine Person zu finden, die sich verdächtig benahm. An dem Ort, der auf der Skizze mit einem roten X markiert war, herrschte ein besonders dichtes Gedränge. Oskar konnte drei oder vier Männer erkennen, die haargenau gleich aussahen. Blieb zu hoffen, dass sich der Attentäter bei Charlottes kleinem Ablenkungsmanöver zu erkennen geben würde. Leicht zu erkennen war hingegen der Kerl mit dem Hut und dem langen Mantel, der, kurz nachdem die tödlichen Schüsse gefallen waren, die Flugblätter in die Luft wirbeln und Tod der Monarchie und nieder mit den Imperialisten! schreien würde. Ob er wirklich etwas mit der Sache zu tun hatte oder ob es nur ein lebensmüder Protestler war, der zur falschen Zeit am falschen Ort auftauchte, blieb noch herauszufinden. Willi und Bert standen direkt neben ihm und würden sich um ihn kümmern, ehe er seine Flugblätter in die Luft werfen konnte.
Oskar blickte zur Kirchturmuhr hinüber. Noch vier Minuten. So langsam musste er sich auf den Weg zur markierten Stelle machen. Als sein Blick die Fassade des Alten Museum auf der anderen StraÃenseite streifte, hielt er inne. Hinter der Balustrade des Museumsdachs erkannten seine scharfen Augen eine Bewegung. Für einen Sekundenbruchteil sah er etwas im Licht der Sonne funkeln. Etwas Metallisches!
Hilfe suchend blickte er sich um. Humboldt war im Getümmel abgetaucht und nicht mehr zu erkennen.
Noch einmal blickte er nach oben. Ganz klar, da oben war jemand. Gut versteckt hinter einer der Statuen, aber von seiner Position aus klar zu erkennen.
Was, wenn der Mann in der Menge nicht der einzige Attentäter war? Was, wenn bei Bedarf auch vom Dach gefeuert werden konnte? Hatte Humboldt diese Möglichkeit bedacht?
Noch drei Minuten.
Oskar fühlte, wie ihm die Zeit davonrannte. Er musste eine Entscheidung treffen. Er schloss die Augen.
40
H umboldt sah, wie Oskar seinen Posten verlieà und nach Süden über die MuseumsstraÃe rannte. Er lief in eine Gruppe von Zuschauern hinein, stieà dabei mit einem von ihnen zusammen, der erbost die Faust erhob. Wütende Rufe hallten
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