Chroniken der Weltensucher – Das Gesetz des Chronos
kam auf drei Schläge. Himmel, schon Viertel vor zehn? Er zog seine Taschenuhr heraus und blickte auf das Ziffernfeld. Tatsächlich. Der Kaiser würde schon bald erscheinen. Und er hatte noch nicht einmal das Stativ aufgestellt.
Er erklomm den steinernen Sockel auf dem Museumsvorplatz und lieà seinen Blick über die Menge schweifen. Mehrere Hundert Menschen hatten sich bereits versammelt und von Minute zu Minute wurden es mehr. Sie kamen von Westen über die MuseumsstraÃe, von Osten über die Friedrichsbrücke und von Süden aus Richtung des Berliner Doms. Das Wetter und die Aussicht, einen Blick auf den Kaiser zu erhaschen, trieb das Volk in Scharen auf die StraÃe. Fritz Ferdinand fühlte, wie sein Puls sich beschleunigte. Wenn der Kaiser und die Kaiserin die Pergamon-Ausstellung verlieÃen und dem Volk zujubelten, musste er vorbereitet sein. Natürlich konnte sich alles noch verzögern. Wilhelm der Zweite lieà sich nicht gerne drängen. Wenn ihm etwas gefiel, dann hatte er alle Zeit der Welt. Dann konnte er stundenlang in einem Gebäude verweilen, egal, ob drauÃen die Menschen auf ihn warteten. Ging ihm hingegen etwas gegen die Hutschnur, konnte sein Besuch deutlich kürzer ausfallen. Ein Kaiser war es eben gewohnt, dass sich die Uhr nach ihm richtete, nicht umgekehrt.
»Alfons, das Stativ. Wenn wir es hier oben aufstellen, haben wir eine gute Position. Zehn Meter Abstand dürften optimal sein. Vielleicht gelingt es uns ja sogar, das Teleobjektiv aufzuschrauben und ein hübsches Porträt aufzunehmen, was meinst du?«
»Gerne, Herr Ferdinand.«
Alfons Stettner war ein junger Mann von siebzehn Jahren. Schwarzes Haar, flinke Augen und ein ansprechendes ÃuÃeres. Sein Vater war in der Druckerei beschäftigt, doch seinen Sohn zog es in die Redaktion. Berichte, Reportagen, Interviews waren seine Leidenschaft und er machte seine Sache wirklich gut. Fritz Ferdinand hatte schon lange keinen Assistenten mehr gehabt, der so mit Feuer bei der Sache war. Es tat ihm jetzt schon leid, wenn er ihn irgendwann wieder abgeben musste.
Es war schon sehr angenehm, wenn man nicht immer alles selbst schleppen musste. Alfons hob das Stativ zu ihm herauf und Fritz Ferdinand übernahm es und stellte es auf. Das gute Stück wog mindestens zwölf Kilo und war aus Zedernholz mit Messingbeschlägen gefertigt. Ein Andenken seines alten Lehrmeisters, der es ihm beim Ausscheiden aus der Firma vermacht hatte. »Nimm lieber ein schweres Stativ«, hatte er gesagt. »Leichte Stative lassen dich immer dann im Stich, wenn du sie am dringendsten brauchst.« Eine goldene Regel, die sich schon des Ãfteren bewahrheitet hatte.
Fritz Ferdinand klappte die Beine aus, stellte die Höhe ein und legte die Wasserwaage auf. Noch ein paar Feinjustierungen, dann konnte er die Kamera befestigen.
»Alfons, stellst du dich mal da drüben an den Eingang, damit ich die Schärfe regeln kann?« Er zog den Balgen der Kamera aus, tauchte unter das Verdunkelungstuch und blickte durch den Sucher. Alfons tauchte im Bild auf, machte ein paar Schritte nach rechts, stemmte dann die Hände in die Hüften und posierte in der Art, wie der Kaiser es immer zu tun pflegte. Lächelnd tauchte Fritz Ferdinand wieder unter dem Tuch auf. Er reckte den Daumen in die Höhe. »Komm wieder rüber, dann kannst du mir beim Wechseln der Kassette helfen.«
Er wollte gerade seine Tasche öffnen, um die Schiene mit dem Blitzpulver herauszuholen, als er einen einzelnen Mann am Rande des Platzes bemerkte, der mit grimmigem Blick die Leute beobachtete. Hochgewachsen und gekleidet in einen schwarzen Ledermantel, bot er einen recht imposanten Anblick. Die Entfernung war zu groÃ, um ihn genauer in Augenschein nehmen zu können, aber Fritz Ferdinand hatte den Eindruck, dass es sich um den Forscher Carl Friedrich von Humboldt handelte. Es sah so aus, als wartete er auf jemanden.
Fritz Ferdinand fühlte einen Anflug von schlechtem Gewissen aufflammen. Im Büro lag immer noch sein Artikel über die Zeitmaschine. Eigentlich hatte er vorgehabt, ihn schon bald zu veröffentlichen, doch er hatte Humboldt sein Wort gegeben, es nicht zu tun. Wenn er die Story jetzt brachte, würde der Wissenschaftler vermutlich nie wieder einen Satz mit ihm wechseln. Andererseits, es war gerade Sauregurkenzeit. Nichts, was sich zu veröffentlichen lohnte, und er war schlieÃlich Journalist. Er hatte
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