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Chronos

Titel: Chronos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Charles Wilson
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derartig desorientierend – derartig ernüchternd –, dass er lange im Licht der Deckenbeleuchtung regungslos dastand. Wenn jemand ihn so gesehen hätte, wäre er sicherlich zu dem Schluss gekommen, dass er geistig weggetreten war. Er sah aus wie ein Mann, der einen kraftvollen Schlag auf den Schädel erhalten hatte – und immer noch stand, um jeden Moment umzufallen.
    Mal sehen, dachte er, ich bin im Keller in Richtung Süden aufgebrochen und dann in weitem Bogen zurückgegangen, eine halbe Stunde ungefähr ... möglicherweise bis zum Einkaufszentrum oder zu den Läden unten am Highway. Er stieg die Treppe hinauf und erwartete nichts, ging durch eine weitere Tür und betrat eine schäbige Lobby, die er nicht kannte. Dann traf ihn blitzartig ein Gedanke.
    Als ich das Haus verließ, hat es nicht geregnet.
    Nun, das lag auch schon einige Zeit zurück, oder? Eine Zeitspanne, in der durchaus ein Unwetter vom Meer heraufziehen konnte.
    Aber er erinnerte sich auch an die Wettervorhersage vom Wochenende: Sonnenschein mindestens bis Dienstag.
    Es wäre nicht das erste Mal, dass die Meteorologen sich irrten. Das Wettergeschehen an der Küste konnte durchaus eine unerwartete Wende nehmen.
    Dennoch, da draußen kam einiges vom Himmel.
    Tom war in einer Halle gelandet, die offenbar zu einem Apartmenthaus gehörte: rissiges Linoleum, eine ganze Reihe Klingelknöpfe an der inneren und der äußeren Tür – die äußere Tür wies sternförmige Sprünge auf. Er prägte sich die Halle als Orientierungspunkt ein, dann wagte er sich nach draußen.
    In den Regen.
    In eine andere Welt.
    Toms erster vorsichtiger Gedanke war, dass er in eine Filmkulisse geraten war – dies war die einleuchtendste Erklärung, die er in seiner Verwirrtheit finden konnte. Ein professionelles Bühnenbild für ein Zeitstück.
    Alle Fahrzeuge auf den Straßen waren Oldtimer, obgleich einige praktisch neu aussahen. Es musste ein Vermögen gekostet haben, dachte er benommen, all diese vierrädrigen Liebhaberobjekte in einem Teil der Stadt zu versammeln, den er nicht kannte (das ist nicht Belltower, beharrte eine Stimme in seinem Inneren), wo alle Gebäude aus einer bestimmten Epoche stammten, ebenso wie die Leute, echte Leute oder Schauspieler oder Komparsen, und zwar Dutzende, die durch den Regen eilten. Und es gab keine Kameras und keine Scheinwerfer.
    Er wich in den Regenschatten dieses schäbigen Gebäudes zurück.
    Es fiel ihm schwer nachzudenken. Einerseits war er aufgeregt, befand sich in Hochstimmung. Er war unter unvorstellbaren Umständen an diesen unvorstellbaren Ort gelangt. Er hatte es, verdammt noch mal, geschafft. Magie! Begeisterung durchflutete ihn, während er mit ihrem Partner stritt, der krassen tierhaften Furcht vor dem Unbekannten. Ein Schritt in die falsche Richtung, und er wäre verloren. Alles, was er wirklich wusste, war, dass er irgendwohin gelangt war, wo das prächtigste Fahrzeug auf der Straße ein 61er Buick war – oder etwas Ähnliches –, und wo alle Männer, die dem Regen an diesem kalten Abend trotzten, um Himmels willen, Hüte trugen, keine Regenhauben, sondern richtige Hüte – Filzhüte oder Schlapphüte oder wie immer sie genannt wurden –, Hüte von der Art, wie man sie in alten Komödien mit Cary Grant sehen konnte. Planet der Hüte!
    Es war sehr, sehr seltsam, aber gleichzeitig sehr, sehr real. Ein kalter Wind peitschte ihm Regen ins Gesicht. Echten Regen. Eine Frau, die sich unter ihren Regenschirm duckte, musterte ihn verstohlen von der Seite, als sie an ihm vorbeieilte, und Tom begriff, dass sie hier zu Hause war, dass er der Eindringling war – ein merkwürdiger, geistesabwesender, ungepflegter Mann mit einem Rucksack auf dem Rücken. Er sah an sich herab. Seine Jeans waren grau vor Staub und streifig, wo der Regen den Schmutz aufgeweicht hatte. Seine Hände waren fast schwarz.
    Der Gedanke blieb: Ich bin hier ein Fremder.
    Und auf einer noch tiefer liegenden Bewusstseinsebene war ihm absolut klar, was dieser Ort war. Er war ungefähr anderthalb Kilometer durch einen völlig neutralen Tunnel gewandert (MASCHINE hatte der Fernseher ihn genannt) – und etwa dreißig Jahre in die Vergangenheit.
    Nicht die Vergangenheit von Belltower, Washington. Es war eine dunkle Nacht, aber er begriff sofort, dass dies eine größere und betriebsamere Stadt war, als Belltower es je gewesen war. Jedoch eine amerikanische Stadt. Die Leute sahen amerikanisch aus. Eine amerikanische Stadt etwa im Jahr seiner Geburt.
    Er gab sich

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