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Chuzpe: Roman (German Edition)

Chuzpe: Roman (German Edition)

Titel: Chuzpe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lily Brett
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Sie waren so eilfertig aufgesprungen, als wäre sie ein Mafiaboß. Als müßten sie fürchten, beim geringsten falschen Wort, der geringsten falschen Handbewegung auf der Stelle erschossen zu werden. Sie küßte jeden von ihnen herzlich. Sie wollte ihnen zeigen, daß sie kein Ungeheuer war.
    »Wollen wir etwas essen?« sagte Ruth. Wenn sie diejenige war, die den anderen vorschlagen mußte, etwas zu essen, dann stimmte etwas ganz entschieden nicht. Edek bestellte sich eine kleine Portion Rollmops. Zofia und Walentyna bestellten Pfannkuchen mit Ahornsirup.
    »Ich mag die amerikanischen Pfannkuchen sehr gern«, sagte Zofia.
    »Ich auch«, sagte Walentyna.
    »Sie sind sehr gut«, sagte Ruth übertrieben eifrig. Sie verabscheute amerikanische Pfannkuchen. Und ekelte sich vor Ahornsirup.
    »Du magst solche amerikanischen Pfannkuchen?« sagte Edek mit mißtrauischer Miene zu ihr.
    »Ja, eigentlich schon«, sagte sie.
    »Ich habe dich noch kein einziges Mal gesehen essen einen solchen Pfannkuchen«, sagte Edek.
    »Kann sein, daß ich lange keinen gegessen habe«, sagte sie.
    Edek sah sie an. »Wann hast du gegessen einen Pfannkuchen?« fragte er.
    »Das genaue Datum habe ich nicht im Kopf, Dad«, sagtesie. Warum hatte sie sich in diese Zwickmühle begeben? Es gab sicherlich andere Möglichkeiten, freundlich zu sein. »Jedenfalls finde ich sie sehr gut«, sagte sie.
    »Sie sind nicht so gut wie die Pfannkuchen, was sind Plinsen«, sagte Edek.
    »Das stimmt«, sagte Zofia. »Die Pfannkuchen, die wir in Polen Plinsen nennen, sind viel besser.«
    Es gab höchstens dreieinhalb Juden in ganz Polen, aber in Zoppot machte man Plinsen? Ruth hatte gedacht, daß man Plinsen nur in größeren polnischen Städten bekam, in Städten, die vom Holocaust-Tourismus lebten. Von Juden, die nach Polen reisten, um Todeslager zu besuchen, Ghettos und vernachlässigte jüdische Friedhöfe. Juden, die nach ihrem einstigen Zuhause suchten, ihren einstigen Fabriken, Werkstätten, Läden und Bürogebäuden. Oder nach dem Zuhause, den Fabriken, Werkstätten, Läden und Bürogebäuden ihrer Eltern oder Großeltern. Ruth hatte nicht gewußt, daß man in Zoppot Plinsen bekam.
    »Die Pfannkuchen, was sind Plinsen, sind nicht von dieser Welt«, sagte Edek. Ruth war sehr froh, daß das Gespräch sich wieder der Normalität anzunähern begann. Wenn Edek von Essen schwärmte, das nicht von dieser Welt war, konnte man das als gutes Zeichen nehmen, daß alles wieder in Ordnung war. Ruth kam sich nicht mehr allzusehr wie Mussolini oder Stalin vor. Sie kam sich fast wieder vor wie sie selbst.
    »Mögen Sie einen Bissen von meinem Pfannkuchen?« sagte Zofia zu Ruth.
    »Nein, danke, Zofia«, sagte sie. »Ich bin ganz zufrieden mit meinem Obstsalat.«
    Edek verdrückte seinen Rollmops in Rekordgeschwindigkeit. Er stellte seinen leeren Teller auf den Nebentisch und holte seine Unterlagen hervor. Es waren drei Blatt Papier. Sie sahen aus, als wären sie oft zusammen- und wieder auseinandergefaltet worden. Edek hatte sie in der Tasche gehabt.Zofia beeilte sich mit ihrem Pfannkuchen, und Walentyna hörte zu essen auf. Ruth sah, daß die Blätter in Edeks europäisch anmutender Handschrift mit Listen von Gegenständen beschrieben waren. Edeks Handschrift war ordentlich, aber ein bißchen verspielt, jedes Y, jedes G, jedes F und jedes P war mit imponierenden Schleifen versehen. Und jedes kleine I hatte einen I-Punkt.
    »Ich habe alle Unterlagen zusammen, Ruthie«, sagte Edek. »Ich habe das Geld, was wir werden brauchen. Ich habe alles.«
    Ruth konnte es nicht ertragen, die Blätter anzusehen. Sie wollte nicht jede Zeile beäugen. Sie wollte nicht wieder in die Rolle des Diktators oder Despoten zurückrutschen.
    Sie sah verschiedene Überschriften. »Möbel«, »Küchenutensilien«, »Kühlschränke«, »Toiletten«. Jede Überschrift war in Großbuchstaben geschrieben. Und unterstrichen. Unter den Überschriften war nicht viel aufgeführt. Edek hatte offenbar nicht sehr viele Dinge verzeichnet. Sie nahm an, daß die Mietkosten sich auf irgendeinem Extrablatt befanden. Miete konnte nicht unter Küchenutensilien firmieren. Oder vielleicht doch? Auf dem letzten Blatt sah sie die Überschrift »Miete«. Sie bildete ebenso eine eigene Kategorie wie »Fleischwolf«, »Herd« und »Geschirrspülmaschine«. Einzelheiten konnte Ruth ohne Brille nicht erkennen. Sie wollte ihre Brille nicht aufsetzen. Sie wollte nicht herrschsüchtig wirken. Sie wollte das Ganze möglichst

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