Chuzpe: Roman (German Edition)
gleich groß und makellos rund. Der Gedanke an ihre Mutter stimmte Ruth traurig. In der Woche zuvor hatte sie eine rote Handtasche aus dem Besitz ihrer Mutter vom obersten Regalbrett ihres Kleiderschranks geholt. Es war eine Lederhandtasche mit Perlmuttgriff. Ruth hatte die Handtasche nie benutzt. Die achtzehn Jahre seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie diese Handtasche zusammen mit vier Paar Schuhen und zwei Kleidern ihrer Mutter in ihrem Kleiderschrank aufbewahrt. Die Schuhe konnte Ruth nicht tragen. Sie waren ihr zu klein. Die Kleider paßten ihr auch nicht. Sie war zu groß. Ängstlich hatte sie die Handtasche geöffnet. Für Ruth war die Tasche noch immer mit ihrer Mutter verbunden. Als würde sie von der Hand ihrer Mutter gehalten oder als klemmte sie unter ihrem Arm. In der Tasche steckten zwei Blatt Seidenpapier.Offenbar hatten sie dazu gedient, die Form der Tasche zu bewahren. Ruth konnte sich nicht erinnern, das Seidenpapier in die Tasche eingelegt zu haben. So etwas tat sie nie. Sie hatte noch nie eine ihrer eigenen Handtaschen ausgestopft, damit die Tasche ihre Form behielt. Sie nahm das Seidenpapier aus der Tasche und roch eine leise Spur des Dufts ihrer Mutter. Sie steckte die Nase in die Handtasche. Sie erschrak. Die Handtasche roch nach ihrer Mutter. War es möglich, daß der Geruch von Menschen verweilte, lange nachdem die Menschen selbst gestorben waren? Ruth mußte sich zusammenreißen. Ein Duft war etwas sehr Machtvolles. Er konnte Abwesende herbeibeschwören. Leute, die nicht im selben Raum und nicht im selben Gebäude waren. Und nicht in derselben Hemisphäre.
Ruth ging oft an Garths Kleiderschrank. Garths Kleiderschrank roch nach Garth. Ruth fand diesen Geruch beruhigend. Tröstlich. Sie trat in den Kleiderschrank und atmete tief ein. Sie ging an den Kleiderschrank und atmete so tief ein, wie sie konnte. Als atmete sie Garth selbst ein. Garth war erst seit etwa zehn Wochen fort. Es war einleuchtend, daß man ihn immer noch riechen konnte, wenn man mitten unter seinen Hemden und Hosen und Jacken und Socken stand. Aber konnte sich ein Geruch über achtzehn Jahre lang halten? Ruth hatte erneut eines der Seidenpapierblätter an ihre Nase gehalten. Es roch unstreitig nach ihrer Mutter. Genau wie die Handtasche. Ruth war schwach in den Knien geworden. Sie hatte die Tasche angesehen, als wäre etwas daran lebendig. Als könnte sie plötzlich zu ihr sprechen. Als wäre ihre Mutter noch am Leben. Sie hatte die Tasche wieder sorgfältig in dem Wandschrank verstaut. Jetzt, da die Tasche Spuren ihrer Mutter zu enthalten schien, hatte sie das Gefühl, sie sehr sicher aufbewahren zu müssen. Ein Bankschließfach wäre nicht das Richtige. Sie wollte sich ihre Mutter nicht in einem charakterlosen, luftlosen Schließfacheingesperrt vorstellen. Sie zwang sich, ihre Mutter oder das, was noch von ihr übrig war, nicht als etwas vorzustellen, was sich zu schwarzer, luftloser Erde auflöste.
»Wir werden eine besondere Sauce aus süß eingelegten Äpfeln und Tomaten und Zwiebeln haben«, sagte Walentyna gerade. »Zofia macht diese Sauce selbst aus Äpfeln und Tomaten mit Essig und Zucker und Ingwer und Senf und Rosinen.«
»Und Meerrettich wird es auch geben«, sagte Zofia. »Kleine Töpfchen von beiden Saucen werden auf jedem Tisch für die Kunden stehen, die ihre Klopse damit würzen wollen.«
»Den Meerrettich macht Zofia nicht selbst«, sagte Walentyna.
»Nein, wir werden koscheren Meerrettich kaufen«, sagte Zofia. »Wir haben schon die beste Sorte entdeckt.«
»Zofia wird für diese Sachen nicht extra Geld verlangen von den Kunden«, verkündete Edek. Er sagte es in einem unentschiedenen Ton, den Ruth bei ihrem Vater nicht oft hörte. Sie sah, daß Edek sich in einem Zwiespalt befand. Daß er sich nicht entscheiden konnte, ob er Zofias Entschluß als großzügige, großherzige Geste betrachten wollte, würdig eines Bill Gates oder einer Mutter Teresa, oder ob er diese Gratisbeilagen für eine unnötige Schmälerung ihres Gewinns halten sollte.
»Später wir werden vielleicht Geld verlangen für diese Sachen«, sagte Edek entschieden und äugte zu Zofia hinüber.
»Später werden wir neue Klopse ausprobieren«, sagte Walentyna.
Ruth sah die drei an. Sie planten eine Zukunft. Dabei hatten sie noch nicht einmal angefangen. Wer wußte, ob sie je anfangen würden? Ganz abgesehen von einer Zukunft. Sie hatten keine Erfahrung. Ihr Budget war lachhaft. Eigentlich ein Unding. Und sie mußten die komplexen,
Weitere Kostenlose Bücher