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Chuzpe

Chuzpe

Titel: Chuzpe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Pittler
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keinerlei Treue mehr verpflichtet.
    Bronstein suchte sich also ein ruhiges Plätzchen und verschnaufte erst einmal. Er konnte sehen, wie die Abgeordneten des untergegangenen Reichs eintrafen, und ihren Unterhaltungen konnte er entnehmen, dassnicht nur die Österreicher anwesend waren, sondern auch einige Polen, einige Südslawen und die deutschsprachigen Vertreter der Länder der Wenzelskrone. Bronstein gestand sich ein, dass er neugierig geworden war, und so folgte er den Mandataren in den Plenarsaal. Bislang waren ihm Parlamentssitzungen vollkommen gleichgültig gewesen, doch dies war, so wurde ihm bewusst, buchstäblich die letzte Chance, noch einmal das alte Abgeordnetenhaus bei seiner Arbeit zu beobachten.
    Zu seiner eigenen Überraschung war der Plenarsaal erstaunlich gut gefüllt. Bronstein vermutete, dass an normalen Sitzungstagen nicht halb so viele Mandatare den Weg zu ihrem Sitzplatz gefunden hatten, doch an diesem Morgen waren nicht nur die Ränge der deutschsprachigen Abgeordneten gut gefüllt, sondern auch jene der Ruthenen, der Rumänen, der Südslawen und sogar der Polen. Wenige Minuten nach elf Uhr gab der Präsident, ein Mann mit Namen Groß, wie Bronstein erfahren hatte, das Klingelzeichen und eröffnete die Sitzung.
    „Aufgrund der voraufgegangenen Ereignisse“, begann der Mann, „haben wir mit der Tatsache zu rechnen, dass Österreich zerfallen ist.“ Nun, damit lag der Präsident nicht falsch, dachte Bronstein. Dadurch habe auch dessen Abgeordnetenhaus keinerlei Aufgaben mehr, stellte Groß resigniert fest, und die Trauer über dieses Faktum war ihm deutlich anzusehen. „Das Richtigste wäre vielleicht, uns selbst aufzulösen“, meinte er sodann, „doch dafür gibt uns die österreichische Verfassung, die ja für uns noch Gültigkeit hat, keine Handhabe.“
    Bronstein erinnerte sich dunkel. Das Haus konnte nur der Kaiser auflösen, doch der hatte ja abgedankt, womit niemand mehr vorhanden war, der die Tätigkeit dieses Parlaments beenden konnte. Der Major war gespannt, wie die Abgeordneten gedachten, aus diesem Dilemma einen Ausweg zu finden. Groß tat dies auf sehr pragmatische Weise: „Ich schlage daher vor, die heutige Sitzung aufzuheben und keinen Tag für die nächste Sitzung zu bestimmen.“ Zu Bronsteins Überraschung wurde dieser Antrag ohne Debatte angenommen. Die ganze Zeremonie hatte gerade einmal 15 Minuten gedauert, dann war ein Schlussstrich unter die parlamentarische Geschichte der Monarchie gezogen. Formal mochte es den Reichsrat immer noch geben, aber jeder der Anwesenden wusste, dies war sein unwiderrufliches Ende gewesen.
    So schnell sie gekommen waren, so schnell zerstreuten sich die Mandatare auch wieder. Bronstein war sich sicher, dass die Ruthenen, die Rumänen und die diversen Slawen nicht länger in Wien bleiben, sondern in ihre Heimat zurückkehren würden. Und die deutschsprachigen Abgeordneten, die gleichzeitigauch die provisorische Nationalversammlung bildeten, hatten zuvor schon vereinbart, sich um 15 Uhr zu ihrer dritten Sitzung als Parlament Deutschösterreichs einzufinden. Bis dahin war im Gebäude selbst mit keinen weiteren Aktivitäten mehr zu rechnen. Erwartungsvoll sah Bronstein die Männer von der Parlamentswache an: „Und was machen wir jetzt?“
    „Na, jetzt geh’n wir einmal essen“, erhielt er lapidar zur Antwort.
    Bronstein begab sich durch das obere Vestibül zum Haupteingang des Parlaments und trat so auf die Rampe. Er blickte nach links und nach rechts und konstatierte dabei, dass der Ring vollkommen ruhig vor ihm lag. Keine Demonstrationen, keine Menschenansammlungen, kein Auflauf. Hätte man es nicht besser gewusst, man wäre nie auf den Gedanken gekommen, dieser 12. November 1918 könnte ein besonderer Tag in der Geschichte des Landes werden. Der Major wandte sich an einen Parlamentsmitarbeiter: „Wo kann man denn hier eine Kleinigkeit zum Essen bekommen?“
    „Wenn’s bei die Politiker bleiben wollen, dann gehen S’ ins Parlamentsrestaurant. Dort isst man genauso gut wie teuer. Wir, die wir als Beamte nur einen Bettel verdienen, gehen rüber zum Aibler in der Bartensteingasse. Das ist so ein Greißler. Dort kaufen wir halt, was er gerade zufällig im Geschäft hat.“
    Bronstein dankte für die Auskunft und beschloss, zur Feier des Tages in die Parlamentsrestauration zu gehen, denn dazu, das wusste er, würde er so schnell nicht mehr Gelegenheit haben. Als er die Tür zum Lokal öffnete, hatte er zunächst Mühe, sich zu

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