Chuzpe
über Nacht ausgegangen sein, denn abermals fror der Major entsetzlich. Er wiederholte die Verrichtungen vom Vorabend und stellte diesmal einen Topf Wasser auf. Den so produzierten Tee genoss er wenig später mit der ersten Zigarette des Tages. Bis er sich zum Dienst im Parlamentsgebäude melden musste, blieben ihm noch fast drei Stunden, und so beschloss er, den Tag ruhig anzugehen. Er hatte keine Eile, und so ließ er die Ereignisse rund um die Fälle Feigl und Spitzer Revue passieren. Er war sich sicher, dass Spitzer nicht versuchen würde, wegen des Vorfalls im Wald Anzeige zu erstatten, denn ihm musste klar sein, dass er unmöglich alle Beteiligten erwischen würde, ehe einer von ihnen ihn erwischte. Diese Sache konnte er also getrost abhaken. Schon anders sah es in der Angelegenheit Hannah Feigl aus. Er hatte zwar nun eine ungefähre Beschreibung des Mannes, mit dem sie ihren letzten Abend verbracht hatte, doch war die Chance, diesen Herrn ausfindig zu machen, derzeit gleich null. Wenn endlich ein Durchbruch in diesem Fall gelingen sollte, dann musste er mehr auf der Hand haben als einen Schmock, der in einem Restaurant den Kellner brüskierte.
Wie von selbst glitten seine Gedanken ab. Er konnte sich nicht mehr konzentrieren und dachte stattdessen an Jelka. Was die wohl gerade machte? Er wünschte sich, er besäße ein Telefon, dann könnte er wenigstens ihre Stimme hören. Nun, vorausgesetzt, sie hätte auch eines. Der Beginn der Beziehung war überaus vielversprechend gewesen, doch nun kamen fraglos die entscheidenden Tage. Jetzt hieß es, am Ball zu bleiben, damit das Ganze nicht zu einer flüchtigen Affäre verkam. Er bedauerte, am Vortag so schnell damit einverstanden gewesen zu sein, sich erst am Mittwoch wieder zu treffen, denn das bedeutete, dass er noch 36 Stunden ohne ihre Gegenwart auskommen musste, und jetzt schon ahnte er, wie schwer ihm das fallen würde. Bronstein bemühte sich, gegen die in ihm aufsteigende Traurigkeit anzukämpfen, und fokussierte seine Gedanken wieder auf die tote Feigl. Gleich am nächsten Morgen würde er sich noch einmal den Fundort der Leiche ansehen. Irgendetwas musste dort übersehen worden sein, denn der Schlüssel zu dieser Tat konnte nur dort gefunden werden, wie es im Augenblick aussah. War er jedoch in der Redergasse nicht erfolgreich, dann wuchs die Gefahr, dass er diesen Fall ungelöst zu den Akten würde legen müssen, und diese Vorstellung stimmte ihn nicht gerade froh.
Bronstein spürte eine gewisse Unruhe in sich. Es störte ihn, ob der politischen Schlagwetter einen ganzen Tag zu verlieren, den er zu Ermittlungen hätte nutzen können. Hunderttausende Österreicher würden ihn wahrscheinlich um seinen exponierten Platz beneiden, doch er wäre weitaus lieber in Margareten aktiv, um den Mörder der Feigl zu finden. Die Renners und Finks störten da nur.
Nach einer weiteren Tasse Tee war es draußen endgültig hell geworden, zumindest so hell, wie man es für einen Novembertag erwarten durfte. Obwohl es erst kurz nach acht Uhr war, hielt Bronstein es nicht mehr aus. Er holte ein frisches Hemd aus seinem Schrank und zog es zu einer dunkelgrauen Stoffhose an. Da er den Tag im Parlament verbringen würde, wählte er ein etwas teureres Sakko dazu, in dem er ein weißes Stecktuch platzierte. Zwischen Hemd und Jacket kam ein hellgraues Gilet, an welchem er seine Taschenuhr applizierte. Schließlich nahm er noch seinen feldgrauen Wintermantel, und derart ausstaffiert begab er sich auf die Straße.
Da ihm noch genügend Zeit blieb, ging er erst einmal eine Weile zu Fuß, bis er in der Station Wattgasse in die Tramway einstieg. Diese brachte ihn zur Universität, von wo es nur noch wenige hundert Meter bis zum Parlament waren. Bronstein holte seine Uhr hervor und stellte fest, dass es erst neun Uhr war. Er verspürte keine Lust, eine volle Stunde früher als erforderlich am Ort des Geschehens einzutreffen, und so gönnte er sich im Café Landtmann noch einen Einspänner, ehe er die letzte Etappe zum Parlamentsgebäude zurücklegte. Punkt zehn Uhr meldete er sich beim Verbindungsbeamten. Der wies ihn kurz in seine Aufgabe ein und erklärte ihm den mutmaßlichen Ablauf des parlamentarischen Geschehens an diesem Tag. In der Tat würde sich am Vormittag noch einmal der alte Reichsrat versammeln, erst danach beabsichtigte auch die Nationalversammlung zu tagen. Zumindest der Reichsrat konnte ihm rechtschaffen egal sein, denn seit zehn Stunden war er dem Kaiserreich zu
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