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Chuzpe

Chuzpe

Titel: Chuzpe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Pittler
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orientieren. Dichte Rauchschwaden nahmen ihm die Sicht. Erst allmählich konnte er die zahlreichen Gruppen von Parlamentariern ausmachen, die an den diversen Tischen saßen und tafelten. Gleich beim Eingang zur Küche sah er den Staatskanzler sitzen, umringt von einigen honorigen Männern, die ihm jedoch nicht namentlich bekannt waren. Am anderenEnde des Saales jedoch erkannte er Präsident Seitz, dem die Minister Bauer, Hanusch und Deutsch Gesellschaft leisteten. Es war klar ersichtlich, dass die vier in eine hitzige Debatte verstrickt waren, während sie Renner nicht die geringste Beachtung schenkten. Etwas weiter rechts hatte sich der Prälat Hauser niedergelassen, der als einer der starken Männer der Christlich-Sozialen galt. Die deutschnationale Gruppe um Dinghofer wiederum nahm ihr Essen genau in der Mitte zwischen Seitz und Renner ein.
    Bronstein hatte Mühe, einen freien Platz zu finden, denn die Lokalität war sichtlich überfüllt. Endlich fiel ihm ein Tisch auf, an dem nur ein Mann saß, der gedankenverloren eine Suppe zu sich nahm. Bronstein war sich sicher, das Gesicht schon einmal gesehen zu haben, doch er konnte es partout nicht einordnen. Er nahm seinen Mut zusammen, trat an den Mann heran und fragte, ob der zweite Stuhl noch frei sei. Der Mann nickte nur. Bronstein nahm Platz, deutete eine Verbeugung an und sagte: „Major Bronstein. Gesegnete Mahlzeit zu wünschen.“
    „Fink. Gleichfalls.“
    Jetzt fiel bei Bronstein der Groschen, und er fühlte sich mit einem Mal schrecklich unwohl. Ohne es auch nur ansatzweise zu wissen, hatte er sich an die Tafel des Zweiten Präsidenten gesetzt. Ganz schöne Chuzpe, dachte er sich. Doch da dies nun nicht mehr zu ändern war und ein Rückzug nur peinlich ausgesehen hätte, beschloss er, so zu tun, als sei es selbstverständlich, das Mahl mit einem Oberhäuptling des neuen Staates einzunehmen. Immerhin sprachen ja gerade diese Politiker immer wieder von der Volksherrschaft, und er gehörte ohne Frage zum Volk. Als Souverän vergab er sich also nichts, wenn er großzügig war und seinem Diener erlaubte, mit ihm zu speisen.
    Bronstein hatte den Gedanken noch nicht zu einem Ende gebracht, als auch schon ein Kellner neben ihm Aufstellung genommen hatte und ihm die Speisekarte in die Hand drückte.Mit einem Anflug von Grandezza nahm Bronstein diese in Augenschein. Und sogleich wurde ihm abermals schwummrig. Auf der Karte standen Dinge, von denen er gar nicht gewusst hatte, dass es sie noch gab. Und es standen Dinge darauf, von denen er niemals gewusst hatte, dass es sie überhaupt gab. Wo nahmen die Parlamentarier bitte schottischen Wildlachs her? Nach vier Jahren entbehrungsreichen Krieges! Pangasiusfilet auf Artischocken! Hirschragout an Süßkartoffelkroketten! Luftgetrockneter Prager Schinken mit Spargelspitzen und Polentaplätzchen. Gefüllte Truthahnbrust in Weißweinsauce mit Bratkartoffeln! Wenn das Volk wüsste, was hier kredenzt wurde, die Revolution würde augenblicklich ausbrechen und wäre niemals mehr aufzuhalten!
    Bronstein lief das Wasser im Munde zusammen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er zuletzt etwas derart Deliziöses auch nur gesehen hatte. Allein schon die aufgelisteten Nachspeisen nahmen ihm den Atem: Apfel-Zimt-Sorbet, Schokoladen-Obers-Torte, Polsterzipf, Granatapfelkompott. Meine Güte, war er in einem Palast gelandet?
    Der Major sah neuerlich auf die Karte und tastete dabei unsicher nach seiner Brieftasche. Er tat, als suchte er sein Sacktuch, und förderte dabei unter dem Tisch seine Barschaft zutage. Nun, damit konnte er sich immerhin das Gedeck leisten. Und vielleicht, wenn er mit dem Trinkgeld knauserte, auch noch eine klare Bouillon mit Gebäck. Ohne es zu wollen, begann er sich zu schämen.
    Dabei sahen die Speisen noch faszinierender aus als sie auf der Karte wirkten, stellte er fest, als dem Präsidenten die Truthahnbrust auf den Tisch gestellt wurde. Bronstein verschlang sie förmlich mit seinen Blicken. Fink entging das nicht.
    „Ich hab eigentlich gar keinen Hunger. Wollen Sie’s?“
    Bronstein lächelte gequält. „Tschuldigung schon, Herr Präsident. Aber so etwas könnt ich mir nicht leisten.“
    „Ach was, nehmen S’ es. Sind’s mein Gast, od’r!“ Fink winkte den Kellner herbei. „Bringen S’ mir die Polsterzipf. Und gleich die Rechnung für alles, was auf dem Tisch konsumiert wurde, od’r.“
    Bronstein war sprachlos, und allein sein Blick drückte seine Dankbarkeit aus. „Is scho recht“, meinte

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