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Chuzpe

Chuzpe

Titel: Chuzpe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Pittler
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freilich der Schlusssatz des Artikels. Adler sei seit der letzten Verfassungsänderung Außenminister gewesen. So konnte man auch elegant den völligen Zerfall eines Staates umschreiben. Verfassungsänderung! Das traf dann wohl auch auf die Oktoberrevolution in Russland zu.
    Der Artikel freilich enthüllte in keiner Weise, woran Adler nun wirklich gestorben war, doch ein Sanatorium legte die Vermutung nahe, dass er es auf der Lunge gehabt hatte. Merkwürdig. So schnell konnte es gehen. Da schien der Mann am Beginn einer großen Karriere in der neuen Regierung zu stehen, und plötzlich riss ihn eine Lungenentzündung aus dem Leben. Doch Bronstein hatte nur wenig Zeit, über die Flüchtigkeit der menschlichen Existenz nachzusinnen, denn ein Artikel auf der nächsten Seite erregte seine Aufmerksamkeit. Die deutschösterreichische Regierung, die ja nun allein noch im Amt war, hatte eine Regierungsvorlage erarbeitet, welche sie der Nationalversammlung am kommenden Tage zur Beratung übergeben wolle. Darin wurde nun erstmals das neue Österreich als „demokratische Republik“ definiert, die allerdings Bestandteil der deutschen Republik sein sollte, wie es in dem Text hieß. Sollte Österreich mit einem Mal vollkommen der Vergangenheit angehören? Bronstein glaubte seinen Augen nicht trauen zu können. Sollte das heißen, er gehörte ab morgen zu den Marmeladingern? Das konnten diese Politiker doch unmöglich ernst meinen! Die herrliche Weltstadt Wienplötzlich deutsche Provinz, das war ein Scherz! Eilig las Bronstein weiter und erfuhr, dass er von seinem Treueid gegenüber dem Kaiser mit Ablauf des 11. November entbunden war. Das wiederum bedeutete, dass er eigentlich in wenigen Stunden keine Stellung mehr besaß, denn auf Deutschösterreich war er noch nicht vereidigt worden. Als Polizist agierte er dann also praktisch im luftleeren Raum. Bronstein kam aus dem Staunen nicht heraus. Na ja, sagte er sich schließlich, wenigstens wird aus mir kein deutscher Schupo!
    Der Zug fuhr in die Station und brachte ihn innert weniger Minuten nach Meidling, wo er in die andere Stadtbahnlinie einstieg, die ihn nach Hernals brachte. Er hoffte, dass noch ein Wagen der Linie 43 verkehrte, denn dann brauchte er nicht mehrere Kilometer zu Fuß zu laufen, und zu seiner großen Freude hielt eben eine Tramway an der Haltestelle, als er diese erreichte. Bronstein bestieg den Triebwagen und ließ sich erschöpft auf einer der Holzbänke nieder. Was war das für ein Tag gewesen! Punkt für Punkt kehrten die Ereignisse in seiner Erinnerung wieder. Ob der blöde Spitzer den Mund halten würde? Ob Jelka ihm wirklich nicht gram war? Und hatte der Kaiser nun tatsächlich abgedankt? Würde er morgen in einer Republik aufwachen? Oder gar in Deutschland? Tage wie diese reichten normalerweise für ein halbes Leben. Kein Wunder, dass er kaum noch die Augen offen halten konnte.
    Beim Sportclubplatz stieg Bronstein aus, um die letzten paar hundert Meter zu Fuß zu gehen. Es hatte wieder zu nieseln begonnen, und Bronstein schlug den Kragen seines Mantels hoch. Schon auf der Höhe des Nachbarhauses zog er die Schlüssel aus seiner Tasche, um vor dem Haustor keine Zeit zu verlieren. Erleichtert zog er das Tor hinter sich zu und erklomm die Stufen zu seiner Wohnung.
    Diese war erschreckend kalt. Beinahe fror Bronstein in seinen eigenen vier Wänden mehr als draußen auf der Straße. Mitklammen Fingern suchte er ein paar trockene Äste zusammen, die er in handliche Stücke zerbrach, ehe er sie in den Ofen stopfte. Dann nahm er die eben erst erworbene Zeitung und zerknüllte sie. Er griff zu einem Streichholz, riss es an und hielt es an das Papier. Als dieses ordentlich aufgelodert war, schob er es unter die Holzstücke und hoffte, diese würden nun ebenfalls Feuer fangen. Es dauerte zwar eine Weile, aber schließlich begann der Ofen Wärme abzugeben. Bronstein rückte seinen Ohrensessel zum Ofen, holte die Überdecke aus dem Schlafzimmer und setzte sich, die Decke über die Beine geschlagen, an die Wärmequelle. Mit einer Zigarette und einem Glas Slibowitz ausgestattet, gönnte er sich ein wenig Lektüre, doch nur allzu bald merkte er, dass er schon lange kein Auge mehr zugetan hatte. Die Müdigkeit ergriff von ihm Besitz. Er dämpfte die Zigarette aus, trank das Glas leer und begab sich samt Überdecke in sein Bett, wo er alsbald einschlief.

VI.
Dienstag, 12. November 1918
    Draußen begann es eben erst zu dämmern, als Bronstein erwachte. Der Ofen musste

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