Chuzpe
Beamter entbunden worden, und er würde erst am nächsten Morgen als republikanischer Beamter wieder vereidigt werden. Wenn ihm also einer blöd kam, dann konnte er mit einer gewissen Abgeklärtheit erklären, er habe ohnehin weit mehr getan, als von ihm hätte erwartet werden können, denn streng genommen sei er mit Verkündigung des besagten Gesetzes Beamter im Ruhestand gewesen,weshalb er schon zu diesem Zeitpunkt seinen Posten hätte verlassen können. Von einer dienstrechtlichen Verfehlung könne mithin in keiner Weise die Rede sein.
Bronstein war stolz auf sich. Diese Argumentation war fraglos hieb- und stichfest. Niemand konnte ihm daraus einen Strick drehen. Doch wahrscheinlich hatte der Beamtenapparat ohnehin andere Sorgen. Die unzähligen Toten und Verwundeten mussten erst einmal politisch erklärt werden. Außerdem wurden eben die Spitzen der Beamtenschaft ausgetauscht. Die alten Chefs würden sich um solche Details nicht mehr kümmern, und die neuen waren noch gar nicht ernannt. Nicht nur er befand sich im rechtsfreien Raum, sondern auch seine Vorgesetzten. Er würde also einfach am nächsten Morgen zu seiner Angelobung marschieren und so tun, als ob nichts gewesen wäre, und alles Weitere würde sich dann schon finden. Wozu sich also den Kopf darüber zerbrechen.
Der Major trank den Slibowitz aus, zahlte seine Rechnung und verließ das Lokal. Draußen wurde er von körnigem Schneefall empfangen. Wie es wohl dem Vater gehen mochte? Er hatte ihn immer noch nicht besucht, und er ertappte sich dabei, dass er sich darob schämte. Gleich morgen, so sagte er sich, würde er den Weg ins Krankenhaus antreten, und sei es auch nur, um der Mutter in dieser schweren Stunde beizustehen.
Die Kälte war fürchterlich und Bronstein froh, bereits nach wenigen Metern wieder Obdach zu haben. Als er Jelkas Wohnung betrat, war kein Laut zu vernehmen. Er schlich in das Zimmer und stellte fest, dass Jelka tief und fest schlief. Bronstein wusch sich noch oberflächlich, dann legte er sich zu ihr ins Bett. Sie gab einen murmelnden Ton von sich, den er nicht zu deuten wusste, doch sie rückte, immer noch schlafend, zur Seite. Bronstein verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte in die Dunkelheit. Eine Vielzahl von Gedanken beschäftigte ihn noch eine gute Weile, ehe er endlich eingeschlafen war.
VII.
Mittwoch, 13. November 1918
Draußen sah es mehr als düster aus, als Bronstein erwachte. Er griff nach seiner Uhr und hielt sie im Dämmerlicht gegen das Fenster, um die Zeit ablesen zu können. Zehn Minuten vor sieben. Mühsam kletterte er aus dem Bett und wankte, immer noch schlaftrunken, in die Küche. Dort kramte er nach Zündhölzern, mit denen er zuerst die alte Petroleumlampe, die Jelka wenige Tage zuvor erstanden hatte, und dann den Herd anzündete. Er wartete, bis das Feuer im Ofen konstant brannte, dann stellte er einen Kessel mit Wasser darauf und kramte in den Küchenkästen, ob sich dort Tee- oder Kaffeeersatz finden ließ. Er fand einige vertrocknete Blätter, deren Farbe ihn zu der Vermutung führte, es handle sich um Salbei, und ihr Geruch bestätigte ihn in dieser Annahme. Als das Wasser kochte, warf er sie hinein und wartete, bis es eine kräftige Farbe angenommen hatte. Dann goss er das so gewonnene Getränk in zwei Tassen, von denen er eine auf den Tisch im Zimmer stellte, während er mit der anderen zum Bett ging, um langsam und behutsam Jelka zu wecken.
Der stieg der Duft des Tees in die Nase und sie lächelte Bronstein zufrieden an. „Guten Morgen, du Schöne“, flüsterte er, „Zeit, einen neuen Tag zu beginnen.“
„Wie spät ist es?“, fragte sie und unterdrückte ein Gähnen. Bronstein nannte ihr die Uhrzeit. Sie kroch wieder unter die Decke: „Zeit, noch ein wenig zu schlafen.“ Bronstein streichelte sanft ihre Schulter und stellte dann die Tasse auf dem Nachtkästchen ab. Er ging zurück zum Tisch, trank einen kräftigen Schluck und suchte dann nach seinen Zigaretten. Einekleine Weile hing er seinen Gedanken nach, dann bemühte er sich um einen Plan, wie er den neuen Tag gestalten sollte. Zuerst, so wusste er, musste er zu dieser wahnsinnig überflüssigen Angelobung, doch dann würde er sich in den fünften Bezirk verfügen, um noch einmal mit Bergmann zu sprechen. Er war sich nunmehr ziemlich sicher, dass die Lösung des Falles Feigl in dieser Tapeziererei zu finden war. Wer immer der Stutzer war, mit dem sie die letzten Tage ihres Lebens verbracht hatte, er musste es gewesen
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