Chuzpe
nicht einfiel. Er dankte den Vorrednern namens der versammelten Beamtenschaft für das ihr entgegengebrachte Vertrauen und erklärte, man würde sich auch dem neuen Staat mit aller Kraft zur Verfügung stellen. Nun trat endlich ein Kanzlist vor und verlas die Gelöbnisformel,die alle diensteifrig nachsprachen. Sie erhoben die rechte Hand und streckten die Schwurfinger ab, und Bronstein musste sich mühen, nicht automatisch jene der linken Hand zu kreuzen. Eine Minute später war er praktisch wieder in Amt und Würden, mit allen Pflichten, die dieser Umstand mit sich brachte. „Und nun, meine Herren“, hörte er den Minister sagen, „zur Feier des Tages, ein Glaserl Wein.“ Tatsächlich brachten mehrere Amtsdiener Tabletts mit Gläsern in den Raum, und auch Bronstein ergatterte eines davon. Alibihalber hielt er es in die Höhe, damit praktisch allen und niemandem zuprostend, und trank dann einen Schluck. Sofort verzog er den Mund. „Der Sauerampfer is ja absolut ned trinkbar“, entfuhr es ihm, „da is ja a Brünnerstraßler a Weltwein dagegen!“
Pokorny, der unauffällig an ihn herangetreten war, pflichtete ihm bei: „Die wollen, dass wir gleich am ersten Tag desertieren!“
„Apropos desertieren. Komm, Pokorny, schleich ma uns. Wir haben Wichtigeres zu tun. Der Fall Feigl löst sich nicht von allein.“
Pokorny folgte seinem Vorgesetzten auf dem Fuß, und wenig später saßen die beiden in ihrem Büro. Bronstein skizzierte die Lage und setzte Pokorny davon in Kenntnis, dass er sich noch einmal nach Margareten begeben würde, da er dort, und nur dort, die Lösung zu diesem verworrenen Rätsel zu finden vermeine. Pokorny fragte, was er dann tun solle, und Bronstein meinte, das bleibe ihm überlassen. Er schickte dem Kollegen noch ein zweideutiges Grinsen, dann wandte er sich zum Gehen.
Wenige Minuten nach elf Uhr stieg er in der Station Pilgramgasse aus der Stadtbahn aus und ging sodann die wenigen Meter, die diese von der Tapeziererei trennten. Er stellte erleichtert fest, dass die Werkstatt geöffnet war.
„Was woin nachher Sie?“, tönte es ihm entgegen.
„Zuerst einmal wissen, wer Sie sind“, antwortete Bronstein und hielt seine Kokarde in die Höhe.
„Oha, a Kieberer. Tschuldigung, schon, ein Herr Inspektor“, verbesserte sich der Arbeiter. „Manfred Sokop. I bin Polsterer da.“
„Und seit wann?“
„Seit 18 Jahr. Früher hab i in der Schlossgassen drüben gearbeitet. Aa zehn Jahr. Drum war i a zu alt für’n Krieg.“
„Na“, meinte Bronstein, „dann kennen Sie sich da sicher gut aus. Ich tät sagen, wir gehen jetzt gemütlich eine rauchen, und Sie erzählen mir a bissl was.“
„I waaß ned …“
„Aber i! Entweder so, oder am Präsidium. Wie’s beliebt.“
„Gemma!“
„Eben.“
Die beiden standen an der Brüstung der Stadtbahnüberbauung und blickten ziellos auf die linke Wienzeile. „Sieben Leut arbeiten da, hab ich g’hört“, sagte Bronstein.
„Ja, des stimmt. Fünf Arbeiter und zwei Näherinnen.“
„Die Kollegen sind in etwa in Ihrem Alter?“
„Ja. Wir sind alle zwischen 45 und 50, und wir haben alle mehr oder weniger gleichzeitig ang’fangen mit dem Handwerk. Wir kennen uns schon ewig.“
„Und die beiden Näherinnen?“
„Die eine können S’ vergessen, und die andere, die is a bissl a hantige!“
„Was heißt jetzt nachher des?“
„Na ja“, antworte Sokop vorsichtig, „die is mittlerweile ned unwichtig da beim Bergmann. Ned, dass sie offiziell was zum Sagen hätt, aber, na ja, irgendwie doch.“
„Aha, und geht das a bissl genauer?“
Sokop blickte sich um und erkundete, ob sich irgendjemand in Hörweite befand, dann kam er mit seinem Gesicht ganznahe an Bronstein heran: „A Panscherl hat s’ mit dem Juniorchef. Deswegen führt sie sich auf, als wär’s die Grande Dame persönlich. Aber natürlich nur, wenn der Alte ned da ist.“
„Mit dem Juniorchef meinen S’ jetzt den, der in Ungarn is?“
„War. Ja, genau den. Gestern is er z’ruckkummen. … Oder war’s schon am Montag? Da bin i ma ned sicher, aber des is ja auch egal. Jedenfalls hat der a Gspusi mit der Edith, und deswegen sieht die sich schon als die neue Chefin.“
In Bronstein löste der Vorname sofort einen Denkprozess aus. „Edith? Das ist diese Čudnow, oder?“
„Genau. Drum hat die auch als Einzige von uns einen Generalschlüssel vom Betrieb. Den hat ihr der junge Herr Bergmann persönlich gegeben.“
Bronstein dachte nach. Nun, mit der würde er sich
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