Chuzpe
wild getanzt hätte. „Jelka, das ist … ich bin … danke!“
„Wofür denn“, sagte sie leichthin, „ist doch viel einfacher so. Da brauchst nicht in dem Beisl gegenüber auf mich zu warten. Stell dir vor, deine Kollegen kassieren mich wegen irgendetwas ein. Da wartest dann ganz umsonst auf mich. So kannst dich wenigstens in mein Bett kuscheln und von mir träumen.“
Bronstein stand auf und ging zu Jelka hin. Er beugte sich zu ihr hinunter und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich bin spätestens um sieben Uhr wieder da und warte auf dich“, sagte er. Dann wandte er sich dem Fenster zu, beseitigte die Träne, die sich in seinem rechten Auge eingenistet hatte, und griff nach seinem Jackett. „Bis am Abend dann“, krächzte er, „ich liebe dich.“
„Vice versa“, entgegnete sie mit einem Lächeln.
Bronstein verließ die Wohnung und marschierte auf den Donaukanal zu. Das Wetter war nach wie vor ungemütlich und hielt ihn dazu an, sich so schnell als möglich fortzubewegen. Vor allem auf der Brücke pfiff neuerlich ein eisiger Wind, sodass er tatsächlich zu laufen begann. Keuchend erreichte er die Straßenbahnstation, an der er, während er auf die Tramway wartete, am Stand hüpfte, während er gleichzeitig die Arme in konstanter Bewegung hielt. Endlich kam die Garnitur herangekrochen, und er stieg eilig zu, froh darüber, ins Warme zu kommen. Vier Stationen später stieg er wieder aus und legte die letzten Meter zum Präsidium zu Fuß zurück.
Auf seinem Schreibtisch fand er die Notiz über die Angelobung, und ohne weitere Verzögerung ging er in den entsprechenden Saal, wo schon zahlreiche Kollegen versammelt waren.
Natürlich musste bei einer solchen Gelegenheit wieder eine ganze Heerschar an Oberen eine Rede halten. Es begann der Minister persönlich, der mit schier unerträglichem Pathos die Werte der Republik pries und von einer nicht zu hoch einzuschätzenden Ehre sprach, ihr dienen zu dürfen. Die Beamtenschaft müsse sich des Privilegs bewusst sein, so meinte er, dem Staat und damit dem Volk dienen zu dürfen.
Bronstein blickte an die Decke und fühlte sich schon nach wenigen Sätzen genervt. Eine Wortwiederholung gleich im dritten Satz! Eine rhetorische Leuchte war der Minister jedenfalls nicht. Dienen! Dienen! Hatte er denn nicht schon genug gedient? Was war das überhaupt für eine Umwälzung, wenn ohnehin alles beim Alten blieb? Auch die Monarchie war voll von diesen Floskeln gewesen, hatte beständig über Ehre, Dienst und Vaterland schwadroniert. Offensichtlich hatte man an die Stelle des Begriffs Kaiser den Begriff Volk gesetzt und zudem ein paar Köpfe ausgetauscht. Apropos Köpfe! Bronstein sah sich im Saal um. Weder der Polizeipräsident noch sein Stellvertreter hattensich zu dieser Zeremonie eingefunden. Sie wurden vom Minister auch mit keinem Wort erwähnt, was Bronstein als reichlich kleinlich empfand. Wenn die beiden auch entschieden nicht in die angeblich so neue Zeit gepasst hätten, so wäre dem Minister kein Zacken aus seiner republikanischen Krone gefallen, wenn er deren langjährige Verdienste wenigstens mit einem Wort gewürdigt hätte. Aber anscheinend hatte der neue Staat keine Zeit für Sentimentalitäten. Er war voll und ganz damit beschäftigt, sich selbst zu loben. Und so endete das Regierungsmitglied denn auch mit einigen Heil-Rufen auf Deutschösterreich.
Bronstein war gespannt, wer nun das Wort ergreifen würde, denn üblicherweise war nun der Polizeipräsident am Wort. Zu des Majors großer Überraschung trat Ministerialrat Seydel nach vorne. Mein Gott, dachte Bronstein, der Seydel. Der hat doch noch nie einen ganzen Satz herausgebracht. Der war wahrscheinlich nur deshalb auserwählt worden, um das Gestammel des Ministers in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Tatsächlich verhedderte sich Seydel rasch in einigen Schachtelsätzen, um abrupt in Schweigen zu verfallen. Er schickte ein unsicheres „Ned?“ nach, was allgemeine Betretenheit auslöste. Hilfe suchend sah sich der hohe Beamte um, doch niemand sprang ihm in diesem Moment bei. So hob er zögerlich die rechte Hand und meinte: „Die neue Republik, Deutschösterreich, sie lebe … hoch, ned wahr! Vivat …, meine Herren.“
Der Minister erlöste den überforderten Redner, indem er ihm die Hand schüttelte und für seine Worte dankte. Nunmehr ergriff ein Oberst aus der Abteilung „Leib und Leben“ das Wort, den Bronstein zwar flüchtig kannte, dessen Name ihm im Augenblick allerdings
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