Chuzpe
suchen. Ohne Erfolg, wie es schien. Zuerst verließ ihn seine Familie, und jetzt waren seine Nächsten beide tot. Das Gespräch mit dem Mann würde wohl Fingerspitzengefühl verlangen.
Bronstein und Pichler überquerten die Reinprechtsdorfer Straße und konnten dabei bereits die breite Straße sehen, die anstelle des ehemaligen Linienwalls angelegt worden war. „Jetzt ist es gar nicht mehr weit“, bemerkte Pichler. In der Tat bog er wenige Meter später nach links ab und hielt auf das Haus mit der Nummer 1 zu. Die beiden fanden die betreffende Wohnung und klopften an. Penetrantes Husten war die Antwort. Der Mann in der Wohnung belferte wie ein Wachhund, und es hatte den Anschein, als bekäme er eben einen veritablen Anfall. Endlich ebbte der Lärm ab, und nach einer kleinen Weile hörte man ein „Wer is’s?“ aus der Wohnung. Pichler übernahm die Initiative:
„Polizei. Herr Feigl, wir müssen mit Ihnen reden.“
Schlurfende Geräusche kündigten ein Näherkommen Feigls an. Dann wurde an den Schlössern der Tür herumgedoktert, und endlich erblickten die beiden Beamten das Gesicht des Diurnisten.
„Wos is?“
„Des is a bisserl heikel“, entgegnete Bronstein, „dürf ma vielleicht hereinkommen?“
Feigl trat zur Seite: „Aber auf Ihr Risiko.“
Bronstein sah sich in der Wohnung um. Sie bestand augenscheinlich nur aus zwei Räumen, einer Küche, die gleichzeitig als Vor- und Wohnzimmer dienen musste, und einem weiteren Raum, der wohl als Schlafzimmer fungierte. Es war evident, dass hier seit ewigen Zeiten nicht mehr saubergemacht worden war, wohl seit die Ehefrau ausgezogen war, und Bronstein unterdrückte aufsteigenden Ekel. Er wandte sich dem Mann zu undmusterte ihn. Für vierzig war Feigl reichlich heruntergekommen. Hätte es Bronstein nicht besser gewusst, er hätte ihn auf mindestens sechzig geschätzt. Das wirre Haupthaar war aschfahl, der Stoppelbart, der das Gesicht verunzierte, glitzerte silbern im spärlichen Licht, das durch das Gangfenster in die Wohnung fiel. Feigl trug nichts als ein ärmelloses weißes Unterhemd und eine abgewetzte, schmutzige Flanellhose am Leib, seine Füße steckten in Holzpantoffeln, was Bronstein angesichts der vorherrschenden Kälte mit nicht geringer Verwunderung registrierte. Unwillkürlich fröstelte ihn noch mehr, und instinktiv zog er seinen Mantel fester zu. Aus dem Mund des Mannes hing eine selbstgedrehte Zigarette, in der rechten Hand hielt er eine halbvolle Bierflasche. Bronstein konnte sich nicht vorstellen, dass der Mann noch berufstätig war, und Gott allein mochte wissen, wovon dieses Wrack seinen Lebensunterhalt bestritt. Feigl hustete erneut und spuckte dann einen großen Klumpen Auswurfs in die Spüle. Er nahm einen kräftigen Zug aus der Flasche, dann sah er von Pichler zu Bronstein und wieder zurück: „Oiso, wos is heikel?“
„Herr Feigl, wir haben Ihnen eine traurige Mitteilung zu machen. Ihre Tochter Hannah ist tot. Sie wurde vorgestern Nacht in der Redergasse gefunden, konnte aber erst heute identifiziert werden.“
„Des Hannerl!“, stöhnte der Mann und begann zu wanken. Seine linke Hand ruderte nach hinten und suchte am Spülbecken Halt. „Ned des Hannerl a no. Is doch scho die Gitti …, naa, sogen S’, dass des ned wahr is.“
„So leid es uns tut, Herr Feigl. Aber jeder Zweifel ist ausgeschlossen.“ Bronstein bemühte sich um eine teilnahmsvolle Miene. „Herr Feigl, Sie haben unser vollstes Mitgefühl, aber dennoch müssen wir Ihnen ein paar Fragen stellen. Ich hoffe, Sie verstehen das.“ Feigl torkelte zu dem wackeligen Tisch, der in der Mitte des Raumes stand, und ließ sich auf einen derbeiden Sessel fallen. Er starrte ausdruckslos vor sich hin und schien unter Schock zu stehen.
„Herr Feigl?“
Endlich reagierte er wieder. Er sah auf und schüttelte langsam den Kopf: „Sie war doch noch so jung!“ Mit gebrochener Stimme stammelte er: „Mei Hannerl.“ Dann fiel sein Kopf vornüber auf die Tischplatte, und der Körper des Mannes wurde von einem Weinkrampf geschüttelt.
Bronstein blickte sich in der Küche um und entdeckte eine Flasche Obstler. Er griff zu einer angestaubten Tasse, blies kurz hinein und goss sie dann mit Schnaps voll, um sie schließlich Feigl hinzuhalten: „Trinken S’ das, das wird Ihnen guttun.“
Tatsächlich beruhigte sich Feigl allmählich. „Wos woin S’ wissen?“, fragte er endlich.
„Hatten Sie noch Kontakt zu Ihrer Tochter?“
„Na ja“, begann Feigl umständlich, „die
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